Interventionistisches Cybertheater

Die Ästhetik der Lüge

Wie die WTO einmal die Abschaffung der Demokratie propagierte. Über das interventionistische Cybertheater der Yes Men.

Während im Literaturbetrieb das Ende der genauso apolitischen wie selbstinszenatorischen Popkultur ausgerufen wird, gibt es im Internet einen Polit-Pop, der mit bösen Mitteln gute Werke tut. Da werden Websites gefälscht, da werden Falschmeldungen in Umlauf gebracht, da geben sich Künstler als Politiker aus. Aber die Inszenierung ist nicht Selbstzweck. Die Hochstapelei erfolgt im Dienst der Aufklärung und dient der Vermittlung von Medienkompetenz. Es geht um die Erziehung zum Misstrauen.

Der gefälschte WTO-Vertreter

Eine der berühmtesten und erfolgreichsten Gegengeschichten ist die der gefälschten Website der World Trade Organization. Folgendes war passiert. Die Aktionsgruppe RTMark, die auch im E-Toy-War mitmischte und dem Präsidentschaftskandidaten George W. Bush zu einer zweiten, ungewollten Website verhalf, produzierte die Website Gatt.org und übergab diese im März 2000 der Hochstaplergruppe. Die erhielt kurz darauf die E-Mail-Anfrage des Center for International Legal Studies in Salzburg, ob Mike Moore, Direktor der WTO, auf einer Konferenz zur internationalen Rechtsprechung die Perspektive der WTO vorbringen würde. The Yes Men mailten im Namen Moores, dass dieser verhindert sei, gern aber Dr. Andreas Bichlbauer aus Wien vorbeikommen könnte. Und so fuhr Mr. Bichlbauer nach Salzburg, mit zwei security assistants, die eine security camera bei sich trugen, deren Notwendigkeit man den Herren leicht plausibel machen konnte. Und so liegt heute neben den Dokumenten auch ein Video Stream vor.

Bichlbauers Vortrag, so The Yes Men, described the WTO's ideas and ultimate aims in terms that were horrifyingly stark-suggesting, for example, the replacement of inefficient democratic institutions like elections with private-sector solutions like an Internet startup selling votes to the highest corporate bidder. None of the lawyers in attendance expressed dismay at Dr. Bichlbauer's proposals.

Der Vorschlag des direkten Stimmenkaufs ist in der Tat starker Tobak, aber die Beschreibung des bisher üblichen, über Wahlkampagnen und TV vermittelten Stimmenkaufs ist es nicht minder (zur späteren Umsetzung auch dieser Aktion in Zusammenarbeit mit Voteauction.com siehe den Aufruf zum Umlenken der Besucher der Website eines US-Präsidentschaftskandidaten). Am schärfsten aber sind die Herzchen in der Power-Point-Grafik, mit der Bichlbauer seinen Vorschlag illustrierte. Was, um alles in der Welt, dachten die Konferenzteilnehmer, als sie die Herzchen sahen!

So ganz ohne Verdacht blieb man in Salzburg nicht. Der Konferenzorganisator schrieb am nächsten Tag an »Moores Sekretär«, dass man etwas verwirrt über Bichlbauers Rede gewesen sei, vor allem was seine Position betrifft, dass die Italiener keine Arbeitsmoral hätten, dass man die Wahlstimmen dem Meistbietenden verkaufen solle und dass es Aufgabe des WTO sei, eine One World Culture zu schaffen. Man sieht, die Nachfragen kommen an der richtigen Stelle, man könnte also beruhigt sein. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende.

The Yes Man legten noch eins drauf, indem sie einen Zwischenfall erfanden: Am Rande der Veranstaltung wurde Bichlbauer eine Cremetorte ins Gesicht geschlagen. Die falschen Vertreter der WTO nutzten diese Erfindung, um den Konferenzteilnehmern weitere Aussagen für die Website abzuluchsen. In ihrer E-Mail an die Delegierten hieß es:

A few hours after that lecture, someone anonymously hurled a pie in Dr. Bichlbauer's face. This would have remained merely another irritating illustration of the WTO's unpopularity in today's world of snap judgements, had Dr. Bichlbauer not contracted a rather severe infection from the pie, which was somewhat spoiled. // We are treating this matter with the utmost gravity, as you can surely understand, and so we are asking everyone who was present at the conference, whether or not you saw Dr. Bichlbauer's lecture, to provide us with the following: // 1. If you attended the lecture, we would love to hear your personal reactions to it, as part of our efforts at quality control, and to avoid situations like this in the future. Was the lecture offensive in any way? What struck you the most about it? ...

Da die Resonanz gering war, ließ die WTO Mr. Bichlbauer an den Folgen einer Infektion sterben, die durch den Kontakt mit der verdorbenen Torte ausgelöst wurde.

Dr. Andreas Bichlbauer, who spoke on behalf of the WTO at the CILS conference in Salzburg on Oct. 27, and with whom many of you shared a pleasurable moment or two, has passed on. He succumbed yesterday, at 16:50 CET, to an infection thought to have been caught from the rotten pie which was hurled in his face after his Oct. 27 lecture. // We feel sure that you understand the urgency now with which we ask you all to furnish us with any and all information you may have regarding this crime, which to this day remains wholly unsolved. Our only current lead is the »voter fraud« angle.

Apparently Dr. Bichlbauer said something in his talk that enraged one of the delegates, so much so that said delegate has refused to speak with us, and has accused the WTO of »encouraging voter fraud« ... (27. November)

Die Geschichte nimmt Züge der Trivialdramatik an und prüft deren Brauchbarkeit unter höher Gebildeten. Die - schockiert durch den unerwarteten Tod von Dr. Bichlbauer - sandten entsprechende Kondolenzbekundungen und Kommentare wie:

This is a tragic situation for all of us involved in these international trade matters. I trust that after the investigation has been carried out and the criminal caught, WTO will make the entire incident public so that the effects of this sort of outrageous behavior can be more widely known and condemned.

Although I believe that I was sitting at the seminar group where Mr. Bichlbauer was making his presentation I did not pay attention to his speach whilst I was preparing my presentation for the afternoon session.

Rechtzeitig vor dem angesetzten Beerdigungstermin wurde die Lügengeschichte am 30. November mit einer Aufdeckung abgeschlossen, die selbst wieder eine Lüge war. Mr. Bichlbauer wurde enttarnt, aber die Enttarner blieben undercover:

Dear Delegates, (...) Dr. Bichlbauer, his »security guard,« and his »cameraman« ... belong, it turns out, to an anti-trade cabal called »The Yes Men,« whose interests run exactly counter to our own, and who will stoop to any level whatsoever to make points. // (The point they were attempting to make with this trickery, according to the handwritten letter which we received by this morning's post, had something to do with »corporate power« and »democracy,« though the syntax and handwriting of the letter are, truth be told, too execrable to make much of. (We will be happy to provide a copy of the letter if anyone wishes to see it.))

Man bietet Kopien des handschriftlichen Briefes an - als wäre damit irgendwas bewiesen. Und damit endet die Story. Der Leser aber steht nun der Frage gegenüber, was von alledem eigentlich der Wahrheit entspricht.

Ist es möglich, dass die Herren in Salzburg diesen Schmarren geglaubt haben? Die Herzchen? Und das Bild vom schlafenden Italiener als Faulheitsbeweis? Ist es möglich, dass jemand zugibt, der ganzen Rede nicht zugehört zu haben, weil er die eigene noch vorbereiten musste? Oder sind wir selbst die Ausgelachten, wenn wir glauben, die anderen hätten einen so offensichtlichen Unsinn geglaubt.

Hermeneutik des Verdachts

Auf die Frage gibt es kaum eine Antwort von außen. Will man etwa eine E-Mail an The Yes Man senden? Oder an die Herren in Salzburg? Nein, hier steht man plötzlich allein, und keiner sagt einem, was man glauben soll. In dieser Heimatlosigkeit liegt die Hoffnung der Zukunft. Man muss selbst urteilen, muss abwägen, seinen gesunden Menschenverstand zusammennehmen und die innere Logik des Präsentierten prüfen.

Man muss genau das Verhalten entwickeln, das es braucht, um heute und in Zukunft als Leser zu bestehen. Denn wir leben in einem Zeitalter der Übertreibungen, der mangelhaft geprüften Tatsachen und regelrechten Fälschungen.

Der Drang (und Zwang), über eine Sache zu berichten, möglichst noch ehe sie überhaupt passiert ist, bringt eine Vernachlässigung der Recherche mit sich, die in den neuen Medien zum Prinzip des »publish now, edit later« führt. Denn online lassen sich Fehler ja auch im Nachhinein und vom Leser unbemerkt beseitigen - was zum sonderbaren Umstand einer »umgekehrten Halbwertszeit« führt, wonach die Relevanz eines Online-Beitrages mit dem zeitlichen Abstand von seiner Erstveröffentlichung wächst.

Und die Bilder? Ach, die meisten glauben ja noch immer, was sie sehen. Dabei ist doch seit Spielbergs »Jurassic Park« klar, wie Bilder manipuliert werden können. Das wussten einige zwar schon bei Einführung der Fotografie - sie verwiesen auf die im Foto wirksame Subjektivität des Kameramanns, angefangen bei der Auswahl des Objekts, über den eingenommenen Blickwinkel bis hin zur Belichtung. Da dieses Medium von den meisten Rezipienten jedoch selbst als dokumentarisches benutzt wird - der Nachweis des wirklich Geschehenen auf Familienfesten und Urlaubsreisen -, hält sich hartnäckig der Verdacht, es zeige die Dinge so, wie sie geschehen sind. Das wird sich ändern; spätestens mit dem Siegeszug der digitalen Kameras, wenn jeder Tourist zu einem Lügner wird, der sich seine Urlaubsbilder zurecht retuschiert.

Bei solchen Voraussetzungen und Aussichten muss der Leser schließlich zum Detektiv werden, muss seinen Blick für das Unglaubliche schärfen. Er mag an Romanen und Filmen gesehen haben, wie das geht, nun hat er es anzuwenden, wenn er die Zeitung oder eine Website liest. Die moderne Lektüre muss auf einer Hermeneutik des Verdachts gründen. Im vorliegenden Fall wäre ein Indiz, das Zweifel am dokumentarischen Charakter des Materials aufkommen lässt (neben den erwähnten Übertreibungs-Images und der Tortenschlacht) z.B. der Brief eines Michael Johnson, der auf das Auskunftsersuchen der falschen WTO auf Deutsch geantwortet haben soll:

Wegen unerwarteten Gerichtspflichte hier in Amerika habe ich die Sitzung in Salzburg ganz verpasst. Kann deswegen nichts zur Erforschung dieser Schande vermitteln. Mir scheint's aber, man solle nicht vermuten, es haenge irgendwie mit Dr. Bichlbauers Rede zusammen. Leute, die zu solchen Gewalttaten zurueckgreifen, sind meines Erachtens meistenteils unfaehig sich muendlich auszudruecken oder die Ausdruecke der Anderen weder zu verstehen noch zu bewerten. Ich wuensche dem Herrn Dr. Bichlbauer eine moeglichst schnelle Erholung. Mit besten Gruessen, Michael Johnson

Dass gerade der, der bei anderen mangelndes Ausdrucksvermögen moniert, die Sprache selbst nicht sicher beherrschen soll, ist schon merkwürdig genug. Nun könnte Michael Johnson Amerikaner sein. Aber wieso sollte er dann auf Deutsch antworten? Die »unerwarteten Gerichtspflichte« könnten noch als Flüchtigkeitsfehler durchgehen, nicht aber die falsche Präposition »zu solchen Gewalttaten zurueckgreifen« oder die doppelte Verneinung in: »Leute sind unfaehig sich muendlich auszudruecken oder die Ausdruecke der Anderen weder zu verstehen noch zu bewerten«. Michael Johnson könnte aber auch ein E-Mail-Schreiber sein, der den Fake durchschaut hat und das Spiel mitspielt.

Sollte Michael Johnson jedoch eine Erfindung der Yes Men sein, so könnte das Sprachproblem ein ganz reales sein, schließlich sind die Yes Men Amerikaner, oder es von ihnen ist als Figurensprache intendiert und damit trivialästhetisch. Wie auch immer, es lässt an der Echtheit des Dokuments zweifeln. Und vielleicht ist es ja auch so gewollt. Vielleicht ist das die absichtlich gelegte Fährte, die Schlüsselstelle, die uns sagt: Na, spätestens hier wirst du uns doch wohl die Gefolgschaft aufkündigen.

Aufklärung als Lüge

Der Präsident von CNN, mit dem der Netzkünstler Mark Amerika an einer TV-Diskussion teilnahm, sagte nach der Sendung zu ihm, dass er diese Strategie voll und ganz verstehen kann: »We essentially are delivering to our audience our version of the Truth, our version of history-in-the-making, the one we as Internet artists are making up as we go along.«

Natürlich sind auch die Gegengeschichten nicht die Wahrheit, sondern geben nur eine andere Perspektive auf die Dinge wieder. Genau darauf kommt es letztlich an. Will man nicht die Fehler einer Ideologiekritik wiederholen, die unfähig ist, ihre eigenen ideologischen Voraussetzungen reflexiv einzuholen, dann darf auch die Gegengeschichte nicht als Wahrheit stehen bleiben. Es geht nicht darum, der WTO nicht mehr zu glauben, aber dafür dem, was The Yes Man uns auf amüsante Weise über die WTO enthüllt. Es geht darum, nicht mehr zu glauben.

Und nun raten Sie mal, wer hinter der WTO-Sache auch noch steckt. Am Ende der Präsentation des Vorgangs heißt es: »And the Yes Men wish to thank Ubermorgen.com for their sponsorship, without which this episode could not have happened.« Womit sich der Kreis wieder schließt zu Schlingensief und Schily und Hamlet in Zürich.

Wie soll man die vorliegenden Geschichten nennen? Realfiction? Politische Lügengeschichten? Oder »interventionistisches Cybertheater«, wie es Mark Amerika in Anlehnung an das politische Straßentheater tut.

Auf jeden Fall handelt es sich um eine hoch politische Spielart der Aktionskunst, und dies mag man erstaunt und vielleicht auch erfreut zur Kenntnis nehmen angesichts des Abgesangs der Popkultur und speziell der Popliteraten auf das Politische, das in den Büchern der älteren Generation mitunter so bieder-aufklärerisch und moralinsauer daherkommt. Wie schön, dass nicht alle sich nun nur um sich selbst drehen. Und immerhin: Aufklärung im Gewand der Lüge, und dann noch im Internet, das hat was, das ist beinahe cool genug, um selbst Pop zu sein, Polit-Pop gewissermaßen, oder, mit Mark Amerika, Avant-Pop.