Neuausgabe von Marvin Gayes »What's going on«

Die richtige Frage

Jetzt als historisch-kritische Ausgabe: Marvin Gayes »What's going on«.

Der 1. Mai 1972 sollte ein besonderer Tag in Washington D.C. werden. Seit fast vier Jahren war Marvin Gaye nicht mehr aufgetreten. Als er zuletzt auf der Bühne gestanden hatte, war er noch der Prince of Motown gewesen, der erfolgreichste Sänger des Labels. Monat für Monat hatte er einen Hit nach dem anderen in die Charts gebracht. Wunderschöne Liebeslieder allesamt, am Fließband produziert in Hitsville USA, wie Motown seine Detroiter Studios nannte.

Erfolgreich war er immer noch, als die Stadtverwaltung von Washington den 1. Mai 1972 zum Marvin Gaye-Day erklärte, erfolgreicher als jemals zuvor sogar, doch der Mann, den sie einluden, um ihn zu ehren und auftreten zu lassen, war nicht mehr der gleiche, der zuletzt 1969 eine Bühne betreten hatte. Er war der Künstler, der »What's going on« herausgebracht hatte.

»What's going on« markiert einen Wendepunkt in der afro-amerikanischen Popmusik, und ein wenig von dem Besonderen und der Aufregung, die das Erscheinen damals auslöste, spürt man auch heute noch, wenn man die Deluxe-Edition der Platte in die Hände nimmt - eine Doppel-CD, im Grunde so etwas wie eine historisch-kritische Ausgabe des Albums. Schließlich wird im Booklet nicht nur die Entstehung der Platte genau nachgezeichnet, sondern gleich noch ein zweiter Mix der gesamten Platte mitgeliefert. Jener Mix, der im Grunde der erste war, jene rauere Version der Aufnahmen, die Marvin Gaye im Motown-Headquarter ablieferte und die bei Berry Gordy, dem Besitzer der Plattenfirma keinen Gefallen fand.

Zurecht, wie man im Nachhinein feststellen muss, auch wenn die Unterschiede minimal sind. Die Version von Marvin Gaye betont die perkussiven Elemente etwas stärker, aber das vollendete Meisterwerk ist die Platte, die dann in die Läden kam, etwas glatter, dafür mit jenem Pop-Appeal, für den Berry Gordy eben das Gespür hatte. Man tut sich mit dieser Feststellung jedoch schwer, wäre doch die ganze Schallplatte beinahe an eben jenem Motown-Chef gescheitert.

Motown funktionierte wie eine Fabrik. Es gab die Interpreten, die von Stylisten und Tanz- und Benimmlehrern getrimmt wurden, es gab die Musiker, die Tag für Tag die Tracks einspielten, über die die Interpreten dann ihre Gesangslinien legten, und es gab das Entscheidergremium, das sich jede Woche traf und bestimmte, ob eine Platte herausgebracht wird oder nicht. Das letzte Wort hatte immer der Chef.

Dieses System stürzte Marvin Gaye mit »What's going on«. Und mehr als das, mit dieser Platte erfand er den Autorensoul, ein Modell, das bis heute die afro-amerikanische Popmusik beeinflusst. Zwar hatte Isaac Hayes schon vorher Alben veröffentlicht, die ähnlich sinfonisch waren, und Curtis Mayfield hatte mit seiner Gruppe Impressions Soul und Politik übereinandergeblendet. Trotzdem war »What's going on« der Quantensprung. Mit ihr erfand Marvin Gaye den Soulmusiker als autonomen Künstler.

Vielleicht stellte er sich einfach nur die richtige Frage: Was geht eigentlich ab? Was passiert da draußen und hier drinnen? Zwar war Marvin Gaye psychisch extrem instabil, trotzdem war er bis 1967 recht glücklich gewesen mit der Rolle, die ihm im Motown-System zugewiesen war. Er war der Mann für die Frauen, der sensible Crooner, der mit jedem Stück seine Hörerin ansprach. Dann brach seine Duett-Partnerin Tammi Terrell auf der Bühne in seinen Armen zusammen (sie hatte einen nicht operablen Tumor im Kopf). Dann begann es in Gayes Ehe - er war mit der Schwester von Berry Gordy verheiratet - zu kriseln. Außerdem wuchsen ihm seine Steuerschulden über den Kopf. Schließlich kehrte sein Bruder aus Vietnam zurück und erzählte, was er dort erlebt hatte. Was geht eigentlich ab?

Gaye nahm sich ein Stück, das ursprünglich für eine andere Gruppe geschrieben worden war, lud Musiker ins Studio und nahm die Single »What's going on« auf. Berry Gordy lehnte sie ab. Diese Musik, dieser Auftritt, dieser Anspruch - es passte nicht ins Motown-Programm. Doch Marvin Gaye stellte sich stur. Er werde erst dann wieder für Motown singen, wenn diese Platte erschienen sei. Wochenlang ging es hin und her, schließlich erschien die Single und schlug ein wie eine Bombe. Gaye bekam freie Hand, ein ganzes Album in diesem Stil zu machen, und er nahm sich die ganze Freiheit. Er hob die strenge Arbeitsteilung auf, mit der bisher produziert wurde und setzte durch, dass zum ersten Mal in der Motown-Geschichte nicht nur die Texte auf dem Cover abgedruckt wurden, sondern auch die Namen der Musiker.

Und dieser Marvin Gaye, mittlerweile nicht mehr einfach nur Soulsänger, sondern »Minister«, wie der Bürgerrechtler Jesse Jackson ihn nannte, rollte nun im offenen Wagen durch die Straßen von Washington D.C., seiner Geburtsstadt. Hier sollte er das erste Konzert seit vier Jahren geben, im Kennedy Center, ein Benefiz für eine Bürgerrechtsgruppe. Wie es sich für eine historisch-kritische Ausgabe gehört, ist auch die Aufnahme dieses Konzerts, die Live-Version von »What's going on«, auf der Doppel-CD.

Im Grunde hatte Gaye vor Konzerten panische Angst. Wenn man seinem Biografen David Ritz glauben darf, waren sie für ihn groß angelegte Verführungsszenarien, in denen es um nichts anderes ging als darum, jede einzelne Frau im Publikum herumzukriegen. Für jemanden wie Gaye, der zwischen Superman-Fantasien und Versagensängsten hin- und hergerissen wurde, war das ein Alptraum. Deshalb begann er jedes Konzert Stunden zu spät und hielt sich bis zum letzten Augenblick die Möglichkeit offen, gar nicht aufzutreten.

Doch dieses Konzert musste er spielen, schließlich war es die Krönung seiner triumphalen Heimkehr. Außerdem saßen seine Eltern im Publikum. Die Zeilen »Father, father, we don't need to escalate / war is not the answer, only love can conquer hate« waren nicht zuletzt an seinen Vater gerichtet, der ihn in seiner Kindheit misshandelt hatte und der ihn viele Jahre später erschießen sollte.

Völlig stoned erschien Marvin Gaye auf der Bühne des Kennedy-Centers, schmiss spontan den gesamten Ablauf des Konzerts durcheinander, die Band war nicht eingespielt; es waren die Musiker, mit denen er die Platte aufgenommen hatte, aber das war schon wieder über ein Jahr her, und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb: Diese Aufnahme öffnet einem das Herz.

Marvin Gaye: »What's going on« Deluxe Edition. Motown (Universal)