63 Jahre nach der Reichspogromnacht

Eingeschränkte Solidarität

»Sonntagsreden hören wir genügend«, sagte Charlotte Knobloch, Vizepräsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, in einem Interview der jüngsten Ausgabe der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung. So wie im vergangenen Jahr, als Hunderttausend Berliner am 9. November den staatsmännisch ausgewogenen Reden ihrer Repräsentanten lauschten, um danach beruhigt nach Hause zu gehen. Immerhin hatte man sich und der Welt gezeigt, dass man schon mal solidarisch mit Juden und Ausländern ist, jedenfalls solange einem das nicht wirklich etwas abverlangt.

Geändert aber hat sich seitdem wenig. Neonazis bedrohen und misshandeln Ausländer, Obdachlose und Linke, jüdische Friedhöfe und Einrichtungen werden geschändet. Und derart öffentlichkeitswirksame Zeichen der Verbundenheit mit den Juden in Deutschland wie im vergangenen Jahr wird es dieses Mal nicht geben. Dabei wären sie gerade in der jetzigen Zeit vonnöten.

Zwar ist es in Deutschland, dem Land, dessen Einwohnern es vor 60 Jahren beinahe gelungen wäre, die Gesamtheit der europäischen Jüdinnen und Juden zu vernichten, immer nötig, mit starken Polizeikräften jüdische Einrichtungen zu schützen. Doch nach den Anschlägen in den USA mussten die Sicherheitsmaßnahmen noch weiter verschärft werden. Vor der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte stehen Tag und Nacht Polizeipanzer und schwer bewaffnete Polizeieinheiten. Das Gelände ist mit einem Zaun abgesperrt. Briefe an jüdische Einrichtungen werden nur mit Handschuhen und Mundschutz geöffnet.

Wenn die Solidarität vor einem Jahr ernst gemeint gewesen wäre, müsste es dieses Jahr ebenfalls große Demonstrationen geben. Die Proteste müssten sich gegen die Bedrohung der Juden in Deutschland und in der ganzen Welt richten und gegen einen gefährlich durchgeknallten Islamistenführer, der den Juden mit Vernichtung droht. Stattdessen gibt es aus der deutschen Gesellschaft kaum ein Wort der Solidarität mit den Angegriffenen. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Teile der Linken, der Medien und der Politiker geben den Juden, zumindest den israelischen, eine Mitschuld an den Attentaten in den USA, und deutsche Intellektuelle wie Günter Grass stellen das Existenzrecht Israels in Frage oder unterzeichnen zusammen mit dem Wegschauer Martin Walser einen Appell gegen den Krieg in Afghanistan.

Und auch die Nazis haben verstanden, wo es langgeht. Vier Tage nach den Anschlägen in den USA beschmierten Unbekannte zwei rekonstruierte Häftlingsbaracken in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau mit antisemitischen, antiisraelischen und antiamerikanischen Parolen. Die Präsidiumsmitglieder des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch und Michel Friedman, wurden namentlich diffamiert. Und wieder fehlten Worte der Anteilnahme aus der Gesellschaft.

Paul Spiegel, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, schreibt in seinem soeben erschienenen Buch »Wieder zu Hause?«, dass Juden, die nach 1945 nach Deutschland zurückgekehrt seien, dem Land »trotz des schlimmsten Menschheitsverbrechens einen Vertrauensvorschuss gewährt« hätten. Nun müsste für alle, die von sich behaupten, aus der deutschen Geschichte gelernt zu haben, das wichtigste Anliegen sein, dieses Vertrauen nicht zu enttäuschen und dafür zu sorgen, dass sich Juden in Deutschland sicher fühlen können. Das heißt nicht, Gesetze zu verschärfen und mit noch mehr Panzern jüdische Einrichtungen zu bewachen, sondern in Deutschland antisemitischen, antijüdischen und auch antiisraelischen Positionen entgegenzutreten. Auch denen eines Nobelpreisträgers.