Henry Darger in den Kunst-Werken

Die Höllen des Hausmeisters

Er sah sich als Beschützer der Kinder und massakrierte sie in seinen Bildern. Die Berliner Kunst-Werke präsentieren den Außenseiter Henry Darger.

Ein kleiner Herr im gestreiften Anzug, ein Käppi auf dem Kopf. Von einem Eisenbahnwaggon aus blickt Henry Darger mit leicht emporgerecktem Kinn in die Kamera. Neben ihm sein Freund Whilliam Schloeder, vor ihm ein Schild, das verkündet: »We're on our way.«

Wann das Foto aufgenommen wurde, ist nicht dokumentiert. Sicherlich aber geschah es zu einem Zeitpunkt, als Henry Darger sich tatsächlich auf dem Weg in die »Realms of the Unreal« befand. »Das Reich des Unwirklichen« ist der Titel seines 15 000 Seiten umfassenden Kriegsepos, illustriert mit Hunderten von großformatigen Bildpanoramen. In seinem Reich traf Darger auf die Vivian Girls, eine Truppe von zumeist spärlich bekleideten Teenies, die in Dargers Monumentalwerk einen heroischen Kampf gegen Krieg, Kinderversklavung, Vergewaltigung und andere Plagen führen.

Während die neu kuratierte Wehrmachtsausstellung in den Kunst-Werken die Gräuel des Krieges dokumentarisch zu fassen bekommen will, schöpft Darger mit triefendem Pinsel aus dem Unterbewussten und illustriert den fiktiven Glandeco-Abbieannian War, einen Krieg zwischen seinen Phantasiestaaten. Sein halluzinatorischer Bilderreigen liefert mit zahlreichen Gemetzeln, der Beschreibung kriegstaktischer Ränkespiele und allerlei schnauzbärtigem Uniformpersonal jedenfalls unterschwellig einen Kommentar zu den beiden Weltkriegen ebenso wie zu aktuellen Massakern.

Ein 14bändiges Konvolut lose zusammengefügter Blätter hinterließ der einzelgängerische Darger, der als Hausmeister in einem Krankenhaus arbeitete, der erstaunten Nachwelt, als er 1973 starb.

Schon lange ahnte sein Vermieter, Nathan Lerner, dass es dort in der Eineinhalb-Zimmer-Wohnung brodelte. Immer wieder hatte er Stimmen gehört, die er nicht genau verorten konnte. Häufig drangen bis in die späte Nacht hinein erregte Zwiegespräche zwischen Darger und seinen lebhaften Besuchern durch die Brettertür. Klopfte Lerner dann aber an und erinnerte seinen Untermieter daran, dass es nicht gestattet sei, Besucher über Nacht zu beherbergen, kam die prompte Antwort: »Ich bin allein.« Das klang auch ganz ernst gemeint, aber einige Minuten später hörte Lerner Darger murmeln: »Ich sagte dir ja, sei nicht so laut.«

Der kleine Mann mit Glatze verlor sich nicht in seinem Reich. Obwohl die Kämpfe zwischen Gut und Böse, ausgetragen von seinen Phantasiestaaten, aufs Heftigste tobten und der Autodidakt schlimmste Gemetzel imaginierte, blieb er doch sein Leben lang auf dem Boden der Realität. Allerdings mögen ihm die Grenzen der Wirklichkeit gelegentlich reichlich zerfleddert vorgekommen sein. Dennoch sind seine vehementen Ein-Mann-Debatten vermutlich nicht anders zu werten als der erregte Dialog des Angestellten mit seinem abstürzenden Computerprogramm.

Mittlerweile ist Darger im Kanon der internationalen Kunstgemeinde angekommen. Jedoch nahmen Kuratoren und Ausstellungsmacher ihn zunächst eher widerwillig zur Kenntnis. Zwar war sein Entdecker Nathan Lerner kein Unbekannter in der Chicagoer Kunstszene, aber der häufige Tanz der nackten Nymphen auf Dargers Panoramen sowie deren Erhängung, Erschießung und Misshandlung war vielen Kritikern und Kuratoren suspekt. Rund 30 Jahre nach Dargers Tod hat sich eine andere Sichtweise auf sein Werk durchgesetzt. Nicht zuletzt eine Präsentation von Dargers Werken im PS1, der Nachwuchslounge des New Yorker Museum of Modern Art, sorgte endgültig für die Anerkennung seines Ouevres. Die Seligsprechung Dargers, der sich stets als »Beschützer der Kinder« sah, rechtfertigt sich jedenfalls aus der Intensität seiner Arbeit.

»Er machte es nicht, um Geld zu verdienen, er tat es, um sein Leben zu retten«, behauptet Michael Bonesteel, der die bislang umfassendste Publikation der maschinengetippten Saga kuratierte. Dargers Biografie lädt geradezu zu küchenpsychologischen Deutungsmustern ein.

Geboren wurde er 1892 in Chicago. Obwohl sein Vater ursprünglich aus Meldorf in Deutschland stammte, behauptete Darger später gerne, er sei in Argentinien geboren und heiße eigentlich »Dargarius«. So erklärte er auch die Betonung seines Namens auf dem hart gesprochenen »G«. Bei der Geburt von Dargers jüngerer Schwester starb seine Mutter, was möglicherweise der Anlass für Darger war, zunächst eine heftige Abneigung gegen jüngere Mädchen zu entwicklen. Einem kleinen Mädchen streute er Asche in die Augen und bedrängte ein anderes mit dem Messer. Dies allerdings bereute er zutiefst, besuchte als reuiger Katholik mehrmals täglich die Messe und sah sich hinfort als »Beschützer von Kindern«. Mit seinem Freund Whilliam Schloeder gründete er die fiktive »Kinder-Beschützer-Gesellschaft«, deren einzige Mitglieder die beiden waren.

In Dargers literarischem und bildnerischem Werk ist die exponierte Stellung seiner Beschäftigung mit Kindheit und Jugend überdeutlich. Seine Vivian Girls, die oftmals als Hermaphroditen gezeigte Heldentruppe, hüpfen zumeist mehr oder weniger nackt durchs Bild. Sie werden Opfer von Folterungen und Massakern. Zu guter Letzt allerdings gelingt es den Vivian Girls, in einem mehrere Jahre währenden Krieg den feindlichen Staat, in dem eine rigide Versklavung und Misshandlung von Kindern Regierungsprogramm war, zu bezwingen. Der Grund für Dargers introvertierte Höllenvisionen liegt vielleicht in seiner Biografie.

Im Alter von ungefähr zwölf Jahren landete der als hochbegabt, aber verhaltensauffällig geltende Darger in einem »Asyl für geistig Schwache«. Dem Direktor des Instituts wurde später vorgeworfen, systematisch die Essensrationen seiner Schutzbefohlenen zwecks eigener Bereicherung geplündert zu haben. Misshandlungen von Seiten des Personals waren im Kinderheim anscheinend an der Tagesordnung. Nachhaltigen Eindruck aber machte auf Darger möglicherweise der Versuch der Selbstkastration eines wohl sexuell misshandelten Leidensgenossen, der dann vier Tage später starb. Aus der Schule geflüchtet, absolvierte Darger 1917 ein Jahr bei der Armee, wurde aber wegen einer Sehschwäche ausgemustert.

Den größten Teil seines Leben verbrachte er in einem Eineinhalb-Zimmer-Apartment im Norden Chicagos und verdiente seinen Unterhalt als Hausmeister, Tellerwäscher und Hilfspfleger. Er heiratete nicht und hatte auch keine Freundin. Seinem einzigen Freund aus Jugendzeiten ließ er die zweifelhafte Ehre zukommen, in seinem Epos zum grauenvollsten Anführer der Bösewichter zu mutieren. Nachdem auch sein späterer Freund Whilliam Schloeder 1959 gestorben war, notierte Darger: »Ich bin immer alleine.« Woran sich auch bis zu seinem Tod nichts mehr änderte.

Dennoch führte Darger anscheinend ein innerlich ausgeglichenes Leben, zwar ohne sonderliche Höhen, aber auch ohne dramatische Abstürze. Als Kiyoko Lerner, die Frau von Dargers Vermieter, ihn einmal überraschend in seiner Kammer besuchte, traf sie einen munter pfeifenden und singenden Darger an. »Henry, du bist ein guter Künstler«, stellte die versierte Kunstkennerin fest. »Ja, das bin ich«, erwiderte Darger selbstbewusst.

Ihn vorbehaltlos in eine Reihe mit anderen genreverwandten Außenseiterkünstlern wie den Zöllner Henri Rousseau oder den Materialartisten Jean Dubuffet zu stellen, ist problematisch. Während diese durchaus die Kunstproduktion ihrer Zeit zur Kenntnis nahmen, sich aber bewusst davon abgrenzten, waren Darger seine Zeitgenossen schlicht egal. Er machte seinen Job als Hausmeister und hoffte, wie Randbemerkungen vermuten lassen, möglicherweise auf eine spätere Rezeption seines Werkes, unternahm jedoch keine Anstrengungen, sich in irgendeiner Weise künstlerisch zu etablieren.

Ästhetisch rücken seine Werke daher auch eher in die Nähe des Illustrators Andy Warhol als in die eines Malers wie Paul Klee, der sich ebenfalls der kindlichen Phantasiewelt verbunden fühlte. Dennoch errichtet Darger auf der Grundlage überarbeiteter Zeitungsillustrationen und anderer verfremdeter Grafiken überzeugende, farblich und gestalterisch sensible Landschaftspanoramen. Darin tobt ein von beschützenden Fabelwesen begleiteter Kampf der Vivian Girls. Die Schlacht gewinnt letztlich eine Dimension, die über eine bloße Bebilderung der wild wuchernden Phantasie des Autors hinausgeht. Verglichen mit den Arbeiten Damien Hirsts oder der Chapman-Brüder fallen seine Tableaus auch inhaltlich nicht aus dem gegenwärtigen Kunstkontext heraus. Vielleicht gelang es Darger wirklich, die von zwei Weltkriegen dominierte Gefühlslage der Amerikaner zu erfassen und zugleich sein inneres Chaos zu bändigen.

Projekte von Henry Darger. Kunst-Werke Berlin, Auguststr. 69, 10117 Berlin