Das Jahr der Entscheidung

Ein Jahrzehnt nach dem Beginn der Balkan-Kriege steht eine Auseinandersetzung der postjugoslawischen Republiken mit ihrer jüngsten Vergangenheit noch aus.

Weihnachtlich wirken die Wachleute nicht. 20 italienische Sfor-Soldaten stehen am Heiligabend mit verschränkten Armen vor der katholischen Kathedrale in der Altstadt von Sarajevo, aus den Lautsprechern der nahen Gazi-Husrev-Beg-Moschee schallt die Stimme des Muezzins zum Mittagsgebet. Sechs Militärjeeps schotten das katholische Gotteshaus vor potenziellen Angreifern ab.

Alltag in Sarajevo rund sechs Jahre nach der Unterzeichnung des Dayton-Vertrages, der der 43monatigen Belagerung der bosnischen Hauptstadt im November 1995 ein Ende setzte. Von anfangs 60 000 Soldaten ist die internationale Bosnien-Schutztruppe Sfor inzwischen auf 18 000 geschrumpft, doch ohne die Präsenz der ausländischen Militärs wäre ein Wiederaufflammen der Kämpfe zwischen Einheiten der bosnisch-serbischen Führung von Radovan Karadzic und muslimisch-kroatischen Truppen wohl kaum zu verhindern gewesen. Zu Übergriffen auf Angehörige anderer Nationalitäten oder deren religiöse Einrichtungen kam es dennoch immer wieder. Mehrfach blockierten bosnische Serben allein im vergangenen Jahr gewaltsam den Wiederaufbau während des Krieges zerstörter Moscheen, denn sie werden als Symbole der verhassten Muslime angesehen.

Dreieinhalb Jahre dauerte der Krieg im einstigen Zentrum des sozialistischen Jugoslawien, und wie kein anderes Ereignis steht die Belagerung Sarajevos für die Zerstörung von Titos multinationalem Gründungsmythos: Einheit und Brüderlichkeit. 10 000 Menschen kamen bei der Einkesselung der einst als »Jerusalem des Balkan« gepriesenen bosnischen Hauptstadt ums Leben. In der Bascarsija, der historischen Altstadt von Sarajevo, liegen die katholische und die serbisch-orthodoxe Kathedrale, die Moschee und die alte Synagoge nicht allzuweit voneinander entfernt.

»Zusätzlich zu dem menschlichen Leid, das durch Granatbeschuss und Heckenschützen verursacht wurde, hat die endlose Bedrohung durch Tod und Verstümmelung weitreichende Traumata und andere psychologische Schäden unter den Bewohnern von Sarajevo angerichtet«, heißt es in der Anklage gegen den bosnisch-serbischen General Stanislav Galic, die das Uno-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag Anfang Dezember präsentierte. Vom Beginn der Belagerung im April 1992 bis zum August 1994 kommandierte Galic die Truppen auf den Bergen rund um Sarajevo. Ebenso wie seinen direkten Vorgesetzten, dem bosnisch-serbischen Armeechef Ratko Mladic und dem damaligen Präsidenten der Republika Srpska, Karadzic, werden ihm Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit zur Last gelegt. Auch im Prozess gegen Slobodan Milosevic wegen dessen Rolle im Bosnien-Krieg kommt der Einkesselung Sarajevos eine wichtige Bedeutung zu.

Knapp zehn Jahre nach dem Beginn des Bosnien-Krieges setzt das 1993 eingerichtete Tribunal damit zum Rundumschlag gegen die bosnischen und serbischen Verantwortlichen bei der Zerschlagung Jugoslawiens an. Der Zeitpunkt ist symbolisch gut gewählt. Als die bosnisch-serbischen Einheiten im April 1992 damit begannen, Sarajevo zu belagern, war der Zerfall Jugoslawiens kaum noch aufzuhalten. So jährt sich in diesen Tagen nicht nur die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens durch die Europäische Gemeinschaft zum zehnten Mal, auch die Eroberung der kroatischen Stadt Vukovar durch serbische Paramilitärs unter der Führung von Zeljko »Arkan« Raznjatovic sowie Einheiten der Jugoslawischen Volksarmee (JVA) liegt genau eine Dekade zurück.

Doch nicht nur für die Chefanklägerin des Haager Tribunals, die Schweizerin Carla del Ponte, auch für die regionalen Akteure im ehemaligen Jugoslawien soll 2002 zum Jahr der Entscheidung werden. Zehn Jahre nach dem Beginn der Balkan-Kriege, die mit einem politischen Kompromiss zwischen der mazedonischen Regierung und albanischen Nationalisten im vergangenen Frühjahr ihr vorläufiges Ende fanden, steht die Verurteilung der politisch und militärisch Verantwortlichen oben auf der Agenda der südosteuropäischen Regierungen. »Wenn ein hohes Tier wie Milosevic gefangen wird, kriegen es auch die vielen kleinen Fische mit der Angst zu tun«, erklärt Amer Kapetanovic, der Sprecher des bosnischen Ministerpräsidenten Zlatko Lagumdzija, der Jungle World.

Seit dem Tod des kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman Ende 1999 und dem Sturz Milosevics im Oktober 2000 kennt die Jagd auf die mutmaßlichen Täter des vergangenen Jahrzehnts keine Grenzen mehr. Vorige Woche erst kündigte der serbische Ministerpräsident Zoran Djindjic an, alle wegen Kriegsverbrechen angeklagten Serben bis zum Jahresende an das Haager Tribunal zu überstellen. Und die Führung der bosnisch-serbischen Demokratischen Partei (SDS) warf ihren einstigen Gründer Karadzic Ende Dezember ebenso aus der Partei wie General Mladic und weitere mutmaßliche Kriegsverbrecher, die dem Image der zweitstärksten politischen Kraft Bosniens schaden könnten.

Reibungslos geht die Abrechnung mit der kriegerischen Vergangenheit der fünf neuen Republiken allerdings nicht vonstatten. Abgesehen vielleicht von Slowenien, das mit der Erklärung seiner Unabhängigkeit von der Zentralregierung in Belgrad im Sommer 1991 das Jahrzehnt der Sezessionskriege einleitete, geht ein tiefer Riss durch sämtliche postjugoslawischen Gesellschaften.

Die Konflikte innerhalb der politischen Eliten der jungen Republiken geben nur einen kleinen Eindruck davon. So kam es zwischen Zoran Djindjic und dem jugoslawischen Präsidenten Vojislav Kostunica wegen der Auslieferung Milosevics nach Den Haag bereits vor einem halben Jahr zum Zerwürfnis. Und im völkerrechtlich weiter zu Jugoslawien gehörenden Kosovo weigerte sich im November die Partei des früheren Kommandeurs der so genannten Befreiungsarmee UCK, Hashim Thaqi, einen Präsidenten für das von den Vereinten Nationen verwaltete Protektorat zu wählen, weil die Angehörigen getöteter UCK-Kämpfer nicht zur konstituierenden Sitzung des neuen Parlaments eingeladen worden waren.

Während Djindjic in Belgrad außerdem auf der Entlassung des Generalstabschefs Nebojsa Pavkovic, beharrt, der diesen Posten schon unter Milosevic innehatte, lehnt Kostunica die Überstellung des ranghöchsten jugoslawischen Militärs nach Den Haag wegen der Voreingenommenheit des Tribunals weiter ab. Und im benachbarten Kroatien sorgten Massenproteste von Kriegsveteranen, die sich gegen die Auslieferung zweier als »Helden« deklarierter Generäle richteten, im vergangenen Jahr für eine Monate anhaltende Regierungskrise.

Am heftigsten bedroht der Streit um die kriegerische Vergangenheit jedoch das kleine Bosnien-Herzegowina, in dem gerade einmal vier Millionen Menschen leben. 200 000 Tote und über zwei Millionen Vertriebene hatte das seit 1995 in zwei so genannte Entitäten geteilte Land - gemeinsam mit der serbischen Republika Srpska bildet die muslimisch-kroatische Föderation den institutionell extrem schwach ausgebildeten Gesamtstaat - während des Krieges zu beklagen. Die Frage, wie künftig mit den Verantwortlichen verfahren werden soll, geht an die Substanz der staatlichen Souveränität.

Denn trotz der Ankündigung Mladen Ivanics, des Ministerpräsidenten der Republika Srpska, Karadzic und Mladic an Den Haag auszuliefern, haben die Differenzen zwischen den beiden Entitäten das Land an den Rand des Zerfalls gebracht. Und auch die muslimisch-kroatische Entität ist kein Hort der Stabilität. Erst im vergangenen Frühjahr erklärte Ante Jelavic, ein kroatisches Mitglied im gemeinsamen bosnischen Staatspräsidium, die Herzegowina für autonom. Nur seine Entlassung durch den Hohen Repräsentanten der Uno, Wolfgang Petritsch, konnte das Auseinanderbrechen der Föderation verhindern. So wurde erst einmal Zeit gewonnen.

Für Amer Kapetanovic ist dennoch das Jahr 2002 das Jahr der Entscheidung. Zehn Jahre nach dem Beginn des Krieges könne es sich das Land nicht mehr leisten, sämtliche staatlichen Posten doppelt zu besetzen. Wenn die bosnisch-serbische Regierung in Banja Luka das nicht einsehe, dürfe auch vor einer radikalen Revision des Dayton-Vertrages nicht zurückgeschreckt werden, so Kapetanovic. Länger warten als bis zur Neuwahl des Parlamentes im Oktober will er damit nicht.