Politische und ökonomische Krise

De la Rúas letzter Tango

Plünderungen, Demonstrationen und ein neuer Staatschef: Nach dem Zusammenbruch der argentinischen Regierung macht Interimspräsident Saá große Versprechungen.

Fidel Castro jedenfalls war zufrieden. Ein »Sprachrohr der Yankees« hatte er ihn immer genannt, den gescheiterten argentinischen Präsidenten Fernando de la Rúa, und seine Kabinettsmitglieder beschimpfte der Kubaner schlicht als »chemisch reine Neoliberale«. Nun, nachdem de la Rúa am 20. Dezember seinen Rücktritt erklären musste, hofft Castro auf bessere Zeiten fürs kubanisch-argentinische Verhältnis. Kaum hatte der Interimspräsident Adolfo Rodrígez Saá seinen Sitz in Buenos Aires eingenommen, offerierte Castro Solidarität. Was den kubanischen Staatschef besonders begeisterte, waren Saás Pläne, die Zahlung argentinischer Auslandsschulden vorübergehend einzustellen.

Doch der provisorische Präsident aus den Reihen der bis dato oppositionellen peronistischen Partido Justicialista (PJ) wird wohl etwas handfestere Unterstützung brauchen. Zumindest wenn er all die Vorhaben in Gang bringen will, die er nach seinem Amtsantritt am 22. Dezember angekündigt hat. Ohnehin bleiben ihm vorerst lediglich zwei Monate, bis am 3. März eine neue Regierung gewählt werden soll. Seinen vollmundigen Verlautbarungen zufolge will Saá nicht nur vorerst darauf verzichten, die immensen Auslandsschulden von rund 132 Milliarden Dollar zu begleichen. Um die Wirtschaft des Landes wieder anzukurbeln, soll zusätzlich zum Dollar und zum Peso auch bald eine dritte Währung, der »Argentino«, eingeführt werden. Faktisch existiert sowieso eine Art Drittwährung, seit in Kommunen Schuldscheine verteilt werden, die gelegentlich als Tauschmittel anerkannt werden.

Weitere Maßnahmen sind strittig. Soll der Peso nun doch abgewertet werden? Oder bleibt es bei der von Wirtschaftsliberalen favorisierten Konvertibilität, die den argentinischen Peso seit zehn Jahren im Verhältnis eins zu eins an den Dollar bindet? Auf jeden Fall wird es, so prophezeit es der argentinische Ökonom Marcello Bonelli, »traumatische Momente geben«. Auch die neue Regierung ist bereits mit Unruhen konfrontiert, am Freitag protestierten Tausende vor dem Präsidentenpalast gegen deren neue Wirtschaftspolitik.

Das radikale Sparprogramm, das dem Land vom Internationalen Währungsfonds (IWF) aufgezwungen wurde, ließ das ökonomische System Argentiniens kollabieren. Die Politik des »Null-Defizits«, zu dem sich die Regierung angesichts leerer Kassen gegenüber dem IWF verpflichtete, sorgte für Kürzungen, die niemand mehr verkraften konnte. Bereits seit Juli mussten staatliche Angestellte und Rentner auf 13 Prozent ihres Einkommens verzichten, angeblich für lediglich drei Monate, wie Wirtschaftsminister Domingo Cavallo versprochen hatte. Bis Ende Dezember hatte sich daran jedoch nichts geändert.

Im Gegenteil, zur Weihnachtszeit legte Cavallo sogar noch nach. Er ließ die Löhne der Staatsangestellten einfrieren und verhängte erhebliche Bargeld- und Devisenrestriktionen. Nur noch 250 Pesos durfte jeder Argentinier wöchentlich von seinem Konto abheben; wer ins Ausland reisen wollte, musste sich mit einer einmaligen Auszahlung von 1 000 Dollar zufrieden geben.

Man befürchtete eine weitere Geldflucht. Schließlich wurden in den vorhergehenden zehn Monaten rund 20 Milliarden Dollar außer Landes gebracht. Das Vertrauen auf die argentinische Ökonomie war auf den Nullpunkt gesunken. Von einer Reise nach Washington kehrte der Wirtschaftsminister im Dezember mit leeren Händen zurück. Der IWF hatte beschlossen, 260 Millionen zuvor in Aussicht gestellte Dollar nicht auszuzahlen. Für internationale Investoren war die einstige »Kornkammer der Welt« endgültig zum »Risikoland« geworden.

Doch vor allem im Land selbst ging gar nichts mehr, bevor brennende Barrikaden, Plünderungen und Massenkundgebungen dem Regierungsbündnis von de la Rúas bürgerlicher Union Cívica Radical (UCR) und der Frente País Solidario (Frepaso) den Todesstoß versetzten. Selbst in der offiziellen Statistik war die Arbeitslosenrate auf mehr als 18 Prozent gestiegen, gegenüber dem Jahr 2000 sank der Umsatz in argentinischen Super- und Verbrauchermärkten um 21,3 Prozent. Cavallos restriktive Geldpolitik, die so genannte bancarización, sorgte im Dezember dafür, dass sich die Einnahmen von Händlern innerhalb einer Woche um die Hälfte verringerten.

Neben einer verarmenden Mittelklasse sind vor allem die Millionen Marginalisierten von der Krise betroffen; Obdachlose aus den Elendsvierteln von Buenos Aires, die ihr Geld mit dem Verkauf von Müll verdienen, oder die zahlreichen fliegenden Händler, die vor Weihnachten umsonst auf Kundschaft warteten.

Nicht verwunderlich also, dass sich die Wut in den verschiedenen Sektoren und in allen Teilen des Landes entlud. Kaum hatte de la Rúa am 19. Dezember einen 30tägigen Ausnahmezustand erklärt, stürmten Tausende auf die Plaza de Mayo und forderten den Rücktritt von Wirtschaftsminister Cavallo. Schon vorher hatten in den Außenvierteln von Gran Buenos Aires Menschen damit begonnen, Schaufensterscheiben einzuschlagen und Supermärkte zu plündern. In den folgenden Stunden breiteten sich die Enteignungen auf fast alle Teile des Landes aus: auf Concéption del Uruguay, Entre Rios, Rosario. Die Piqueteros, organisierte Arbeitslose, die seit Monaten mit Aktionen gegen die argentinische Wirtschaftspolitik in Erscheinung treten, bauten Straßensperren, in Córdoba besetzten Arbeiter die Stadtverwaltung, weil dort, wie in vielen Provinzen auch, seit Monaten kein Lohn mehr ausgezahlt worden war. Die Polizei antwortete mit Tränengas und Gummigeschossen. Mindestens 27 Menschen, mehrheitlich Jugendliche und Kinder, wurden getötet.

In der Provinz scheinen auch peronistische Agitatoren und rechte Splittergruppen die Unruhen angeheizt zu haben. Die Peronisten sind Argentiniens Partei mit der größten Mobilisierungsfähigkeit, sie dominieren die Gewerkschaften, die ihnen bereits 1989 beim Sturz einer Regierung, damals unter Raúl Alfonsín von der UCR, behilflich waren. Ausschlaggebend für den Sturz de la Ruás dürfte es aber gewesen sein, dass auch die argentinische Mittelklasse massenhaft auf die Straße ging.

Die politische Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Nachdem Wirtschaftsminister Cavallo bereits am Vortag abgedankt hatte, trat Fernando de la Rúa am Abend des 20. Dezember zurück. Er vertraue darauf, ließ der gescheiterte Staatschef wissen, »dass meine Entscheidung den sozialen Frieden und die institutionelle Kontinuität der Republik unterstützt«. Ganz falsch lag de la Rúa nicht. Kaum hatte er seine Entscheidung bekannt gegeben, beruhigte sich die Situation auf Argentiniens Straßen.

Bis zum 3. März soll nun Rodriguez Saá provisorisch die Amtsgeschäfte leiten. Gegenüber den Forderungen der Protestierenden zeigte er sich zunächst verständig. So versprach er, dass aufgeklärt würde, wie es zu den Toten bei den Auseinandersetzungen kam. Bemüht um ein gutes Image, lud Saá die Madres de la Plaza de Mayo in die Casa Rosada, den Sitz des Präsidenten. Die Mütter der unter der argentinischen Militärdiktatur Verschwundenen, die seit über 20 Jahren für die Aufklärung dieser Fälle kämpfen, waren an den Aktionen der letzten Tage beteiligt. Ihre Sprecherin Hebe de Bonafini forderte die Freilassung sämtlicher Verhafteter. Keinem dürfe der Prozess gemacht werden, »weil er Lebensmittel aus einem Supermarkt geholt habe«. Saá willigte ein.

Das wichtigste Thema der argentinischen Weihnachtstage war allerdings die Ökonomie. Alles Geld, das bislang zur Zahlung der Auslandsschulden eingeplant gewesen sei, werde »zur Schaffung von Arbeitsplätzen und für Sozialprogramme verwendet«, erklärte Saá im Parlament unter dem Applaus der Abgeordneten. »Reden wir mit den internationalen Organisationen, aber machen wir es mit dem Ziel sozialer Gerechtigkeit.« An der Wall Street reagierte man gelassen auf solche Worte. Der Sturz de la Rúas galt als »angekündigter Mord«, mit dem man wegen der mittlerweile vier Jahre anhaltenden Krise gerechnet habe.

Der Leiter des linken Centro de Documentación e Investigación de la Cultura de Izquierdas en la Argentina, Horacio Tarcus, erwartet nun nichts Gutes. »Rodriguez Saá bedeutet einen Boom des Nationalismus. Linke, die das nicht wahrhaben wollen oder selber nationalistisch sind, setzen ihre Hoffnungen auf eine eigentlich rechte Position.«