Arabische Jugendliche in den Banlieues

Regression am Rande

Viele französisch-arabische Jugendliche in den Banlieues orientieren sich wieder an religiösen und familiären Werten.

Wenn demnächst die von US-Präsident George W. Bush eingeführte Sonderjustiz gegen Terroristen sich mit ihrem ersten Fall beschäftigen wird, dann könnte die Weltöffentlichkeit einen Augenblick lang staunend aufblicken. Denn der erste ausländische Terrorist, den die Spezialrichter voraussichtlich verurteilen werden, wird ein Franzose sein.

Der französische Staatsbürger trägt einen arabischen Namen und kommt aus Marokko. Zacarias Moussaoui wurde am 17. August 2001, vier Wochen vor den spektakulären Attentaten in New York und Washington, im US-Bundesstaat Minnesota verhaftet. Er war zuvor in einer Pilotenschule aufgefallen, wo er Flugstunden nahm. Seine Ausbilder fanden es verdächtig, glaubt man den Medienberichten, dass ihr Schüler sich weigerte, Start- und Landeanflüge zu erlernen. Lediglich das Manövrieren in der Höhe und das Kurvenfliegen habe ihn interessiert.

So viel Dummheit musste bestraft werden. Die Leiter der Schule alarmierten die US-Bundespolizei FBI. Ermittlungen nach dem 11. September ergaben telefonische Kontakte zu Mitgliedern der al-Qaida-Zellen in Europa, beispielsweise zur Hamburger Wohnung von Mohammed Atta. Sollten sich die Vorwürfe gegen Moussaoui bestätigen, so dürfte die Affäre in Frankreich einmal mehr die Aufmerksamkeit auf die maghrebinischen Immigraten und die Banlieues, die Trabantenstädte, lenken.

Moussaoui wohnte in einer südfranzösischen Kleinstadt in der Nähe von Narbonne und wanderte Anfang der neunziger Jahre aus beruflichen Gründen nach London aus. Dort geriet er unter den Einfluss einer fundamentalistischen Sekte um den palästinensischen Prediger Abu Kutada, die in den neunziger Jahren eine Moschee in der Baker Street unterhielt. »Mein Bruder war durch die Entfernung von der Familie, seine soziale Isolierung und seine finanziellen Schwierigkeiten anfällig geworden«, gab sein Bruder Abd Samad kürzlich in französischen Medien zu Protokoll. »Außerdem betrachtete er sich als Opfer rassistischer Diskriminierungen.«

Die Entwicklung Moussaouis ist kein Einzelfall. In den neunziger Jahren erhielten islamistische Gruppen vor allem in den Trabantenstädten großen Zulauf. Davon zeugen nicht zuletzt die Attentatsserien der Jahre 1995 und 1996, von deren Urheber einige aus den französischen Banlieues stammten.

Kein Wunder also, dass sich nach dem 11. September zahlreiche Journalisten auf die Suche nach französischen Anhängern bin Ladens machten. Alle größeren französischen Zeitungen veröffentlichten mindestens eine umfangreiche Reportage darüber. Die linksliberale Pariser Libération berichtete Ende September, dass es »keinen Saddam-Effekt in den Banlieues« gebe. Tatsächlich wurde der irakische Diktator Saddam Hussein 1991 während des zweiten Golfkriegs für viele arabischstämmige Jugendliche zum »Helden«, wenn auch nur vorübergehend. Ein vergleichbarer Effekt bleibt demnach heute aus.

Andere Medien ließen sich hingegen zu reißerischen Reportagen verleiten, wie etwa die Boulevardzeitung Le Parisien. »Ussama ist hier der Boss«, zitierte sie kurz vor Weihnachten einen Jugendlichen aus den Banlieues.

Die Schwierigkeit, sich ein unvoreingenommenes Urteil zu bilden, besteht darin, sich aus dem Spiel von Faszination und Provokation zu befreien, das häufig zwischen Jugendlichen und ortsfremden Beobachtern entsteht. So berichtete ein 25jährige Soziologiestudent, er habe in die Mikrofone gerufen: »Es lebe bin Laden!« Dieser Spruch drücke zwar keineswegs seine Meinung aus. Doch angesichts der vielen Reporter, die sich ansonsten kaum für die ghettoisierte Bevölkerung in den Trabantenstädten interessieren, habe er provozieren wollen.

Wer ein differenziertes Urteil will, muss sich daher die Mühe machen, mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Beispielsweise in der Siedlung La Cité, die zur Pariser Vorstadt La Courneuve gehört. Das auffälligste Gebäude ist ein langer Plattenbau mit vier rechteckigen Öffnungen von 15 Metern Höhe in der Glas- und Zementfront. »Die sind da, damit die Flugzeuge hindurchfliegen können, das ist praktischer gedacht als in New York«, scherzen die Jugendlichen. Sie treffen sich vor dem Sitz der Bürgerinitiative Afrika, im Ortskern der Siedlung.

Von ehemaligen algerischen Kommunisten gegründet, ist das Bürgerzentrum heute ein Anziehungspunkt für viele Jugendliche aus der Siedlung, in der etwa 15 000 Menschen wohnen. Der Verein bietet eine Beratung für Frauen ebenso an wie Fortbildung oder Hausaufgabenhilfe. Er ist eindeutig laizistisch ausgerichtet, während andere Initiativen religiös orientiert sind. »Afrika« zieht dennoch ein gemischtes Publikum an, darunter zahlreiche Jugendliche algerischer und marokkanischer Herkunft, aber auch schwarze Kinder und gebürtige Franzosen.

Die meisten Besucher des Zentrums sind jünger als 20 Jahre und besuchen die Berufsschule. Auf die Frage, was sie von den Anschlägen in den USA halte, zeigt ein Mädchen das Display ihres Handys. Dort ist das bärtige Antlitz eines Mannes zu erkennen, daneben steht sein arabisch geschriebener Name: bin Laden. »Er ist einfach ein schöner Mann«, sagen die jüngeren Mädchen und kichern. Zudem mache es offenbar einen Unterschied, wer die Opfer seien. »Für die Iraker und die Palästinenser hat man keine drei Schweigeminuten veranstaltet«, erzählen sie. Die Medien zeichnen ein völlig einseitiges Bild, ereifert sich eine andere Besucherin. »Vorher hat sich niemand für afghanische Frauen interessiert, und jetzt heißt es plötzlich, die Taliban seien ein barbarisches Regime«, meint sie.

Dennoch sind sich alle einig, dass es verwerflich sei, Zivilpersonen zu töten. Sympathien für die islamistischen Extremisten und ihre militanten Nachahmer sind jedenfalls nicht verbreitet. 14 Personen aus La Courneuve waren nachweislich in den neunziger Jahren in islamistischen Gruppen aktiv, mehrere von ihnen sitzen noch heute wegen terroristischer Handlungen oder deren Unterstützung in Haft.

Zufrieden mit den herrschenden Umständen ist im Zentrum dennoch niemand. »Es muss irgendwann knallen, sonst ändert sich nie was. Es haben immer die gleichen das Sagen«, meint der 18jährige Abdelkader, dessen Familie aus Algerien stammt.

Mimoua, eine Betreuerin des Zentrums, erläutert später, dass der Extremismus kleiner islamistischer Gruppen nicht das Problem sei. Aber auf einer anderen Ebene sei eine Regression »um 30 Jahre zurück« bemerkbar. Im Privaten zeigten beispielsweise Frauen Verhaltensweisen, die sie eigentlich schon überwunden glaubte. »Als unsere Eltern uns verheiraten wollten, haben wir alles getan, um die Bewerber in die Flucht zu schlagen«, erzählt Mimoua.

Heute gebe es eine andere Entwicklung. Viele Mädchen warteten auf den Ehemann, den verklärten Ritter. Muslim solle er sein, am besten von der eigenen Nationalität. Die Abwesenheit gesellschaftlicher Perspektiven, die Arbeitslosigkeit und der Verlust jeglicher Utopien stärke die familiäre Bindung und die traditionelle Orientierung. Und damit auch die Bedeutung der Religion.