»Kein Krieg, nirgends« von Henryk M. Broder

Der Broderkrieg

Boris Becker ist drin, Rudolf Augstein fehlt. Henryk M. Broders Buch zur Debatte nach dem 11. September spart einen Protagonisten aus.

Irgendwie und im allerweitesten Sinne ist auch Henryk M. Broder ein Opfer des 11. September. Denn nach diesem Tag, berichtete er der Welt, »entfielen 80 Prozent meiner sozialen Kontakte schlagartig. Meine Kommunikation beschränkte sich auf mehrere tägliche Telefonate mit meinem Freund Reinhard Mohr und mit meiner Familie.« Das ist fürwahr ein hartes Schicksal. Denn wer möchte schon einen Freund haben, der mindestens dreimal täglich anruft? Zumal wenn er Reinhard Mohr heißt und einem womöglich erzählt, im paradigmatischen Diskurs mit seinem alten Gemeinschaftskundelehrer sei ihm soeben aufgegangen, was für eine feine Sache die Gewaltenteilung doch ist.

Broder hat sich erholt und trotz allem die Kraft für ein neues Buch gefunden. Auf der Suche nach einem fetzigen Titel schwankte das Lektorat lange Zeit zwischen »Der diskrete Charme der Taliban« und »Das obskure Objekt des Terrors«, um sich schließlich für »Kein Krieg, nirgends« zu entscheiden. Der grammatische Fehler in der zweiten Zeile der ersten Seite wurde dabei leider übersehen.

Ein Satz, in dem »gerade wir als Deutsche« vorkommen, ist immer falsch. Es sei denn, er lautet: »Gerade wir als Deutsche sollten jetzt einmal den Rand halten.« Das Gebot der Vernunft und der Geschichte wurde natürlich auch im Herbst und im Winter des vergangenen Jahres von den notorischen Wohlmeinenden und von einer großen Zahl prominenter Hohlköpfe, die offenbar ihre Katze würgen müssen, wenn sie zwei Tage lang in kein Mikrofon gesprochen haben, fröhlich ignoriert. Sie alle sagten uns und den Amerikanern, was zu tun und was zu lassen sei. Broder führt sie vor und bestraft sie nach Verdienst.

Der Erste und Schnellste war Eugen Drewermann, der weltbekannte Paderborner Katholik und Ketzer. Denn es traf sich, dass am 11. September im ersten Programm des SFB seine zweiwöchentliche Personality-Show »Nachtgespräche mit Drewermann« lief. »Wir erleben etwas, das vollkommen unmenschlich ist, und sind gelähmt von Trauer, Entsetzen, Empörung, Wut, Hilflosigkeit«, hob der Theologe an. Und sein Gesprächspartner stimmte ein: »Wir haben keine Worte. Es gibt ein Entsetzen, das keine Worte hat, eine Trauer, die sich nicht mehr auszudrücken vermag.« An dieser Stelle hätte die Sendung nun eigentlich auch schon zu Ende sein müssen, aber weil noch so viel Zeit war bis zu den Nachrichten, erinnerte Drewermann an die »Embargo-Politik gegen den Irak« und an »Hiroshima, als man mit einer einzigen Bombe am 6. August über 100 000 Menschen getötet hat«.

Während die Zwillingstürme in New York noch brannten, begann also in einem Rundfunkstudio in Berlin schon die Relativierung des Verbrechens. Und als manche der Opfer noch mit dem Tod kämpften, suchte Drewermann schon nach mildernden Umständen und Entschuldigungen für die Täter. »Terror ist die Ersatzsprache der Gewalt, weil berechtigte Anliegen nicht gehört wurden, es ist die Sprache der Ohnmächtigen.« Er wusste zwar noch nicht, wer die Tat begangen hatte, aber dass sich in ihr ein berechtigtes Anliegen artikulierte, wusste er ganz genau. Denn für die Berechtigung des Anliegens sorgten ja schon die Ziele des Anschlags.

Und so fort. Broder argumentiert gegen die Pappkameraden des so genannten kritischen Denkens mit dem gesunden Menschenverstand und mit einer Wirklichkeit, die manchmal allzu offensichtlich auf der Hand liegt, und gegen ihre inhumanen Abstraktionen mit der Grausamkeit des Verbrechens selbst.

Die Widersacher, die er sich ausgesucht hat, machen es ihm allerdings leicht. Boris Becker, von dem man so etwas kaum erwartet hat, darf durchaus als ihr legitimer Sprecher gelten, denn die analytische Schärfe seiner Gesellschaftskritik blieb unübertroffen, obwohl auch Schorlemmer, Willemsen und Grass sich mühten. »Eigentlich war ich überrascht, dass es so lange gedauert hat, bis eine derartige Katastrophe passiert. Ich meine, die Gegensätze in der Welt werden immer gravierender. Zwischen den einzelnen Religionen, den Gesellschaftsschichten - zwischen Arm und Reich -, werden die Kluften immer größer. Die Wirtschaft spielte auf dem Höhepunkt vor zwei Jahren verrückt, es ging nur noch um den Neuen Markt. Da ging es ja gar nicht mehr um Millionen, sondern darum: Wer macht die nächste Milliarde. Da habe ich mich immer gefragt: Wo ist das Ende, wann kommt der Knall?«

Es gibt also noch Hoffnung. Denn wenn ein Mann, der dreihundert Millionen auf dem Konto hat und für die dreihunderterste Million und für Nutella und AOL den Schimpansen macht und dabei mit seinem Knall kokettiert, schon am Wert der Wertverwertung verzweifelt, dann muss der Untergang des Kapitalismus nahe sein.

»Die Deutschen halten sich für die ewigen Opfer der Geschichte und solidarisieren sich deswegen gerne mit den Opfern von Gewalt«, schreibt Broder. »Aber die eigentlichen Opfer sind und bleiben die Deutschen. 'Keine Bomben auf Kabul' heißt im historischen Kontext: 'Dresden hätte nicht bombardiert werden dürfen'. Es gilt, das Bombardement von damals zu delegitimieren, indem man das von heute für illegal, nutzlos, sinnlos, ja: kontraproduktiv erklärt, was schon deswegen ganz leicht fällt, weil die Bombenwerfer damals wie heute die gleichen sind: Amerikaner und Briten.«

Broder hat im November eine »Erklärung von Schriftstellern zur Unterstützung der Bundesregierung« und ihrer »festen Haltung im Afghanistan-Konflikt« unterzeichnet. Seitdem es aber um den Irak geht und seitdem Joseph Fischer glaubt, gerade er als deutscher Außenminister habe eine besondere Verantwortung für den Nahen Osten, dürfte Broder an dieser Haltung irre geworden sein. Denn er stellt sich nicht die Frage, warum einige derjenigen, die einen Massenmord an unschuldigen Afghanen, ein zweites Vietnam, einen Dritten Weltkrieg, ja sogar ein »demokratisches Auschwitz« mit allen ihren bescheidenen rhetorischen Mitteln zu verhindern suchten, gegen das Bombardement Jugoslawiens nur einzuwenden hatten, dass es zu spät begann.

Unter den deutschen Friedensfreunden und den Kritikern der Amerikaner fehlt einer auffällig. Bevor Broder einst mit großem Tamtam aus der Linken austrat und nach Israel emigrierte, um nur wenig später zurückzukehren und »Reporter« beim Spiegel zu werden, hatte er ihn einen Salonantisemiten geschimpft. Warum dieser Mann in seinem Buch nicht vorkommt, obwohl er während der vergangenen Monate einige schrille antiamerikanische Töne von sich gab, erklärte Broder der Welt: »Augstein und ich haben einen Waffenstillstand. Er sagt nichts über mich, ich sage nichts über ihn.« Zwar seien einige seiner Äußerungen »ungut«, aber doch eigentlich belanglos und nicht weiter schlimm.

Von einem Waffenstillstand, so darf man wohl vermuten, weiß Augstein nichts. Was sollte er auch gegen Broder vorbringen? Nein, er wird nicht ohne Grund glauben, ihn gekauft zu haben, denn in jedem Monat wechseln mehrere Tausend Euro ihren Besitzer. Wenn gerade der Übelste derjenigen, die im Namen Deutschlands gegen die Amerikaner moralisieren, ungeschoren davonkommt, so hat das mit intellektueller Redlichkeit nichts mehr zu tun, und es wäre fast ein Betrug am Leser, wüsste man nicht, dass man alle Broderschen Buchtitel und Artikelüberschriften seit langem im Geist zu ergänzen hat: »... unter besonderer Vernachlässigung Rudolf Augsteins«.

Die großbürgerliche Art des Meinungsstreits gefällt Broder so gut, dass er sie auch in der Weltpolitik anwenden möchte. Vor Jahren empfahl er, den Palästinensern doch einfach immer wieder größere Summen zu überweisen, bis sie nicht mehr Papp sagen können. In der Tat hätte jemand, der seinen Zweitwagen vor dem Eigenheim parkte, wohl keine Lust mehr zu einer Intifada. Aber wer, um Himmels willen, besitzt so viel Geld, ein ganzes Volk inklusive aller Freiheitskämpfer zu bestechen? Vielleicht wenn Rudolf Augstein und Ussama bin Laden zusammenlegten?

Henryk M. Broder: Kein Krieg, nirgends. Die Deutschen und der Terror. Berlin Verlag, Berlin 2002, 215 S., 18 Euro