Marion Gräfin Dönhoff ist tot

Preußen lebt

»Ihre Bücher lesen ist wie Ostpreußen riechen«, empfand vor Jahren eine Kritikernase. Aus ihrer Heimat jenseits der Weichsel brachte die Gräfin Dönhoff, als sie auf ihrem Fuchs Alarich vor der Roten Armee flüchtete, zwei lebenslängliche Schrullen nach Hamburg mit: Preußen und den deutschen Widerstand. Komtesse Marion hatte nämlich auf ihrem Gut Friedrichstein den kategorischen Imperativ und den menschlichen Umgang mit niederem Volk gelernt. Sie hatte zum Kreisauer Kreis gehört, und die meisten ihrer Freunde waren nach dem 20. Juli 1944 hingerichtet worden.

In Hamburg entdeckte sie, was fast jeder noch heute für ihr journalistisches Talent hält. Sie wurde Redakteurin, Chefredakteurin und schließlich Herausgeberin der Zeit. »Sorgfältig feilte, schmirgelte und polierte sie an ihren eigenen wie an unseren Texten«, berichtet Theo Sommer. Und nichts deutet darauf hin, dass er einen Witz machen wollte.

Früh erkannte sie, dass die alte Heimat »von Hitler verspielt« worden und deshalb für immer verloren war. Die Ostpolitik Willy Brandts unterstützte sie in ihren Leitartikeln, auf die Anerkennung der polnischen Grenzen mochte sie aber, obwohl sie eingeladen war, nicht anstoßen. Sie bemühte sich um »das geistige Preußen«. Wohl tausendmal erzählte sie die Geschichte des Obristen Marwitz, der sich seinem König widersetzte und Ungnade wählte, »wo Gehorsam nicht Ehre brachte«.

Immer wenn der Juli kam, musste man von dieser »hoch herausragenden Feder« (Helmut Schmidt) einen weiteren Aufsatz über den deutschen Widerstand befürchten. Sie war nämlich der seltsamen Meinung, er werde viel zu wenig gewürdigt. 1997 verstieg sie sich zu der Behauptung, es gebe »kein anderes Land, in dem führende Vertreter der Nation um der Moral, des Rechts und der Freiheit willen so große Opfer gebracht haben«. Deshalb konnte sie es den Alliierten nie verzeihen, dass sie mit den Männern um Stauffenberg nicht zusammenarbeiten wollten. »Churchill ging es offenbar darum, die Deutschen zu brechen und nicht zuzugeben, dass sie selber versucht haben, sich zu befreien. Er hatte ja schon am 3. September 1939, dem Tag der Kriegserklärung, gesagt: 'Dies ist ein englischer Krieg, und sein Ziel ist die Vernichtung Deutschlands.'«

Auf ihre alten Tage entwickelte die Gräfin noch einen dritten Tick. Sie wollte partout den Kapitalismus zivilisieren. Denn der Materialismus der »Raffgesellschaft« sei abscheulich, Unternehmer und Arbeiter müssten sich einer selbstredend preußischen Ethik unterwerfen. Wie so etwas zu machen sei, hatte sie als Verwalterin des ererbten ostpreußischen Landgutes vorgeführt. Das politische Ressort und das Feuilleton waren begeistert, aber die Wirtschaftsredakteure hielten ihre Herausgeberin seitdem für einen Standortnachteil.

Den politischen Liberalismus überlebte sie, ohne es zu merken. Der Kapitalismus aber ließ sich von ihren Bemühungen wenig beeindrucken. Die sie kannten, liebten und verehrten sie. Ihre Toleranz, ihre Prinzipientreue, ihr feiner Humor, ihre Fähigkeit zum Zuhören waren weltberühmt. Zu ihren Freunden und Bewunderern zählten Henry Kissinger, Richard von Weizsäcker, Lord Dahrendorf und Alice Schwarzer. Allerdings begründen einige Indizien den Verdacht, sie möchte womöglich eine schwer erträgliche Schraube gewesen sein.