Der Situationist Ralph Rumney ist tot

Der schiefe Turm von Venedig

Mit Ralph Rumney ist einer der ersten und letzten Situationisten gestorben. Ein Nachruf

Von den wichtigen beteiligten Künstlern der Situationistischen Internationale (S.I.) erreichte Ralph Rumney das Ziel am schnellsten: Im Sommer 1957 gehörte er noch zu den Gründungsmitgliedern und war einer der fünf überzeugten Befürworter; er machte auch die Fotos, die die Formation jener »neuen revolutionären Front in der Kultur« - eigentlich assoziiert mit modernem großstädtischen Leben und Extremen nächtlicher Unruhe, den Barrikadennächten des Mai 68 zum Beispiel - als Ergebnis eines idyllischen Sommerausflugs in ein entlegenes kleines Bergdorf dokumentieren. Im Frühjahr 1958 war er schon ausgeschlossen; der Dschungel von Venedig habe ihn besiegt, heißt es in der Erklärung.

Kein geringer Verlust, denn immerhin hatte der Engländer mit dem Comité Psychogéographique de Londres eine der drei wesentlichen Stützen in die neue Organisation integriert, über ihn liefen die Verbindungen der Internationale nach London. Später hieß es, Rumney sei ausgeschlossen worden, weil er Peggy Guggenheim geheiratet und dann falsche Prioritäten gesetzt habe. Seine Frau brachte in der Zeit, als Rumney seine Aufmerksamkeit gegenüber der S.I. nicht hätte vernachlässigen dürfen, ihren Sohn Sandro zur Welt. Solche Hintergrundinformationen über merkwürdige Verbindungen der Revolutionäre zu Adelsgeschlechtern der Moderne wirkten auf die späteren Fans der Situationisten ebenso irritierend wie geheimnisvoll. Traten die Situationisten also damit das Erbe der Surrealisten an? Rumney habe es andererseits nicht besser verdient. Wer heiratet denn schon?

Aber die romantische Radikalität sollte mit der Geschichte der S.I. noch so manche Überraschung erleben. Michèle Bernstein und Guy Debord waren zum Beispiel seit 1954 getraut, und als Michèle nach der Scheidung in den siebziger Jahren - ob sie nun die Gala spielen wollte, fragte ihr Mann, als sie ihm den guten Bekannten vorgestellt hatte - Ralph heiratete, ging auch Guy ein zweites Mal zum Standesamt und gab Alice Becker-Ho sein Jawort.

Zwischen den Situationisten ereignete sich offenbar so manches, worauf das offizielle Protokoll keinerlei Hinweis enthielt. Vor zwei Jahren erschien in Paris das Buch »Le Consul«, in dem Rumney all dies in äußerst amüsanter und hintergründiger Weise erzählt, so etwa: Situation London 1960, Konferenz der S.I. an einem geheim gehaltenen Ort, anschließend öffentliche Erklärung im Institute of Contemporary Arts (I.C.A.), entschlossenes Handeln erforderlich. Den stilbewussten Londonern wie Lawrence Alloway, Reyner Banham oder Herbert Read, die sich in ihrem Kurs Richtung Banality, Pop and Pub vom internationalen Trend bestätigt sahen, musste auf ihrem Terrain im I.C.A. entschieden entgegengetreten werden, ein paar scharfe Thesen, einige Beleidigungen, wenn nötig, und ein brüskierender Schlusspunkt, bevor sich die Gelegenheit für irgendeine komische Bemerkung bot.

Die Situationisten mussten dazu allerdings ihre internationale Souveränität unter Beweis stellen, den Gebrauch des Englischen vor allem, und deshalb konnte das geplante Manöver unerwartet schnell auf Grund laufen. Rumney war also im Backstage-Bereich gefordert, durfte jedoch nicht als Teil der Bewegung agieren. Seiner Übersetzung vertraute Debord keine Sekunde, aber des Englischen nicht mächtig, steuerte er durch den Konflikt ohne irgendwelche Anhaltspunkte, und so endete ein umständlicher Austausch von Papieren und Signalen - das Publikum musste immer wieder vertröstet werden, und die Spannung stieg unaufhaltsam - in einem Wort-für-Wort-Deal am Original. Glücklicherweise wurde das Manifest von einem belgischen Situationisten verlesen, und so war die Sender-Empfänger-Anlage in dieser Situation schon durchgeschmort, bevor Inhalte ankamen.

Ralph Rumney, am 5. Juni 1934 in Newcastle geboren, löste seine familiären Bindungen ebenso schnell wie etwaige nationale. Sein Elternhaus verließ er mit 17, und als das Militär die Befehlsgewalt über seine Pläne beanspruchte, entzog er sich dem staatlichen Zugriff und ging nach Paris. Er hatte eigene Vorstellungen vom weiteren Verlauf seiner Jugend. In der französischen Hauptstadt gab es in diesen Jahren ohnehin die weitaus größere Auswahl an Ideen und Lebensformen. Rumney traf seine Wahl zielsicher. Er kam in Kontakt mit gleichaltrigen Provokateuren, die lieber in der Nacht tranken und feierten, als am Tag zu arbeiten, und die auf dieser Basis vollkommen unbeschwert den Begriff der Kunst umformulierten, wenn sie ihn nicht gänzlich zu Grunde richteten. Damals lernte er neben den Lettristen um Bernstein und Debord auch Raymond Hains, Yves Klein und Asger Jorn kennen. Er brachte Mitte der fünfziger Jahre in England die Zeitschrift Other Voices heraus, begann zu malen und bewegte sich im internationalen Geflecht der jüngsten Moderne Europas als ein unberechenbar gewordenes Element.

Obwohl der S.I. heute als letzte Avantgarde eine gesicherte Position in der Geschichtsschreibung eingeräumt wird, blieb Rumney bislang eher unbeachtet. Vielleicht lag es daran, dass sein Comité Psychogéographique sich über 40 Jahre »im Streik« befand, vielleicht aber auch daran, dass er einer Beteiligung am eigenen Erfolg tatsächlich die Verweigerung von gesellschaftlicher Anerkennung vorzog. Während große Museen wie die Tate Gallery nach seinen Bildern suchen ließen, um schnell noch eines der wenigen Werke in ihre Sammlung zu integrieren, lebte Rumney zurückgezogen und unbehelligt in Südfrankreich in dem kleinen Städtchen Manosque. Wie jede dieser Kleinstädte wird sie zwar von engstirnigen Kleinbürgern bewohnt, der vollständig erhaltene alte Stadtkern glich aber in allem der labyrinthischen Matrix, die zu den Leidenschaften des psychogeografischen Experimentierens gehört.

Nach Venedig am Canale Grande, Paris auf Ile de la Cité oder London am Themseufer hatte er nun in einem noch älteren Irrgarten, im Luftbild, das Gehirn einer Stadt festgemacht. Dorthin zog Rumney diejenigen, die wie er einer Mystifizierung der situationistischen Ideen widerstanden und sie weiterhin praktisch-theoretisch erproben wollten, mochten diese Unternehmungen auch noch so begrenzt angelegt sein. Im letzten Jahr versuchte er, die Stadt zu einer Ausstellung über die deutschen Situationisten, die Gruppe Spur, zu bewegen, um deren Beitrag - wie er sagte - jenseits aller möglichen, zumeist voreiligen Einwände endlich einmal in Frankreich zu zeigen. Leider hat sich die höfische Festung der kulturellen Vorbehalte auch durch den Angriff aus der Provinz nicht einnehmen lassen.

Sein letztes Projekt knüpfte an die Gründungszeit der S.I. an. Damals hatte Rumney seine psychogeografischen Forschungen in Venedig zu einer Art Fotoroman zusammengestellt, der unter dem Titel »The leaning Tower of Venice« 1958 in der ersten Nummer der Internationale Situationniste veröffentlicht werden sollte. Doch auch Dokumente machen ihre Umwege. Der Fotoroman verirrte sich zunächst ins Zustellsystem der Post, und als er schließlich aus dem Verwaltungsapparat befreit werden konnte, war er in Paris nicht mehr gefragt. Er wurde in einer englischen Universitätszeitschrift veröffentlicht; das Original verschwand aber und galt seitdem als verschollen. Zu seiner großen Überraschung entdeckte Rumney das verloren geglaubte Stück 30 Jahre später in einer Ausstellung über die Situationisten.

Was mit dem unglücklichen Ding dann passierte, erzählt er in dem Text »Aqua Alta«, der zusammen mit dem Fotoroman im März 2002 von der Edition Silverbridge für eine Luxusausgabe in Paris gedruckt wurde. Rumney ging es im letzten Jahr gesundheitlich nicht sehr gut und während der Vorbereitung zu dem Buch verschlechterte sich sein Zustand bedenklich. Dass die lange vermisste Geschichte, beigefügt ein Blatt mit dem Abdruck seiner Hand, sich fertig gebunden auf dem Weg zu ihm befand, erfuhr er noch. Am 6. März 2002 ist Ralph Rumney in Manosque gestorben. Auf dem Friedhof von Montparnasse in Paris haben Sandro Rumney und seine Familie ihn beigesetzt, begleitet von vielen alten Freunden wie Michèle Bernstein, Raymond Hains und Jacqueline de Jong und von jüngeren, zu denen er den Kontakt immer gefunden hatte.