»Das Urteil hatte politische Gründe«

Interview mit dem Totalverweigerer Volker Wiedersberg, dessen Fall dem Wehrpflichtbeschluss des Bundesverfassungsgerichts zugrunde liegt.

Der CDU-Wehrexperte Paul Breuer kommentierte den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts mit den Worten, die Wehrpflichtgegner hätten »eine Bauchlandung erster Klasse« hingelegt. Wie fühlt man sich als Verlierer?

Das ist zwar eine schöne Äußerung, aber Herr Breuer scheint die Entscheidung nicht richtig gelesen zu haben. Das Verfassungsgericht hat sich gar nicht mit der Frage beschäftigt, ob die Wehrpflicht abgeschafft werden soll oder nicht.

Womit hat sich das Bundesverfassungsgericht denn dann beschäftigt?

Das Potsdamer Landgericht wollte in Karlsruhe klären lassen, ob der Zwang zum Militärdienst überhaupt noch mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die Karlsruher Richter lehnten es jedoch ab, dies zu entscheiden. Sie haben ja nicht über die Wehrpflicht an sich geurteilt, sondern nur die Vorlage der Potsdamer Richter für unzulässig erklärt. Diese hätten sich mehr mit der bisherigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes auseinandersetzen müssen. Dennoch war es sicherlich beabsichtigt, mit dem Urteil öffentlich den Eindruck zu erwecken, dass an der bisherigen Rechtsprechung über die Wehrpflicht nicht gerüttelt wird.

Das klingt fast so, als habe sich das Bundesverfassungsgericht von politischen Gründen leiten lassen.

Es ist schon auffällig, dass der Beschluss vom gesamten Senat gefällt wurde, was in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde. Unzulässigkeitsbeschlüsse werden normalerweise von einer Kammer des Gerichts, die aus drei Leuten besteht, entschieden. Das dauert dann auch keine drei Jahre. Daraus kann man schließen, dass die Kammer sich überhaupt nicht einig war und deshalb die Sache an den Senat überwiesen hat, der sich dann seit 1999 inhaltlich damit auseinandergesetzt hat.

Das ist etwas dürftig, um nachzuweisen, dass die Karlsruher Richter aus politischem Kalkül gehandelt haben.

Über den konkreten Auslöser kann ich auch nur spekulieren. Möglicherweise spielt die anstehende Bundestagswahl dabei eine Rolle. Klar ist, dass das Verfassungsgericht wie kein anderes Gericht in einem politischen Kontext steht und entscheidet, was es auch selbst nicht verhehlt. Seltsam ist zudem, dass die Entscheidung schon am 20. Februar dieses Jahres getroffen, aber erst jetzt veröffentlicht wurde.

Die Sozialdemokraten und die Union wollen die Wehrpflicht erhalten. Die Grünen, die FDP und die PDS lehnen sie hingegen ab und wollen sie zum Teil sogar zum Wahlkampfthema machen. Wie beurteilen Sie die Motive, die zu dieser Konstellation führten?

Was die PDS angeht, kann ich schlecht einschätzen, ob sie die Wehrpflicht wirklich aus pazifistischen Motiven ablehnt. Den restlichen kleinen Parteien geht es hauptsächlich um eine größere Effizienz einer Berufsarmee. Sie meinen, die Bundeswehr könnte ihre Aufgaben dann besser und kostengünstiger erfüllen.

Zu einer Modernisierung der Bundeswehr tragen Sie als Totalverweigerer doch indirekt bei, wenn sie die Abschaffung der Wehrpflicht fordern.

Nein, denn meine Motivation ist eine ganz andere. Mein Argument für die Abschaffung der Wehrpflicht ist, dass sie ein undemokratischer Zwangsdienst ist, der in die persönlichen Freiheitsrechte eingreift. Die Wehrpflicht trägt zur Militarisierung der Gesellschaft im Ganzen bei; die Armee verändert damit die Gesellschaft mehr als die Gesellschaft die Armee. Mit der Wehrpflicht wird auch der Meinung Vorschub geleistet, Krieg sei ein legitimes Mittel der Politik. Meine persönlichen Gründe für die Totalverweigerung sind noch mal andere. Ich kann mir nicht vorstellen, eine Waffe in die Hand zu nehmen und Gebrauch davon zu machen. Hinzu kommt, dass eigentlich niemand mehr von Wehrgerechtigkeit reden kann.

Rudolf Scharping behauptet nach wie vor, die Wehrgerechtigkeit sei »in hohem Maße gewährleistet«.

Fakt ist, dass momentan nur 50 bis 70 Prozent eines Jahrgangs zum Wehr- oder Zivildienst herangezogen werden. Dementsprechend gibt es immer wieder Anpassungen der Tauglichkeitsgrade bei der Musterung. Bei manchen Kreiswehrersatzämtern ist das pure Willkür. Selbst beim Zivildienst ist es teilweise so, dass Leute wegen einer Verwaltungsrichtlinie nicht mehr dazu herangezogen werden.

Da in Deutschland die völlige Abschaffung der Bundeswehr nicht in Sicht ist, bliebe ja bei der Abschaffung der Wehrpflicht nur die Bildung einer Berufsarmee. Bestünde dann nicht die Gefahr, dass ein unkontrollierbarer »Staat im Staat« entsteht, der überdies von Neonazis unterwandert werden könnte?

Eine Berufsarmee gibt es ja längst, die Bundeswehr besteht schon jetzt zu über zwei Dritteln aus Berufs- und Zeitsoldaten. Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Armee, die Menschen zur Gewalt und zum Töten ausbildet, Menschen mit ohnehin niedriger Gewaltschwelle besonders anzieht. Schon heute hat man ja faktisch die Wahl zwischen Wehr- und Zivildienst. Und so sammeln sich in der Bundeswehr ohnehin meist Leute mit eher rechten Einstellungen. Es gibt natürlich auch einige wenige Linke, die bewusst zur Armee gehen, um sich dort für die Gewaltfreiheit einzusetzen, was aber mit schöner Regelmäßigkeit scheitert.

Nochmal zum »Staat im Staat«: Da wird ja immer auf die Weimarer Republik verwiesen. Ich denke nicht, dass man das vergleichen kann. Damals herrschte eine ganz andere politische und gesellschaftliche Situation, in der neben der Reichswehr vor allem Beamte, Politik und Justiz versagt haben. Gegen die Annahme, dass eine Berufsarmee höhere Risiken mit sich bringe, spricht auch, dass die größten Kriege mit Armeen von Wehrpflichtigen geführt wurden.

Ein wichtiges Argument gegen eine Berufsarmee ist es doch gerade, dass sie den Ausbau der Bundeswehr zu einer weltweit einsetzbaren, flexiblen und schnellen Eingreiftruppe beschleunigt.

Auch das ist schon längst so weit. Die Abschaffung der Wehrpflicht und die Verwandlung der Bundeswehr in eine Interventionsarmee hängen jedoch nicht so unmittelbar zusammen. Es gibt ja auch Befürworter der Wehrpflicht, die sich für eine Interventionsarmee stark machen. Die 100 Elitesoldaten, die Scharping auf Terroristenjagd nach Afghanistan geschickt hat, sind dafür das beste Beispiel. Keiner weiß wirklich, was da passiert, aber die Propagandamaschine läuft auf Hochtouren. Das spielt sich bereits heute ab, dazu müsste nicht erst die Wehrpflicht abgeschafft werden.