Den Letzten holt die Bundeswehr

Auch wenn sie anders aufgenommen wurde: Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts könnte das Ende der Wehrpflicht bedeuten.

Die Wehrpflicht bleibt vorerst. Von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der vorigen Woche fühlen sich alle bestätigt. Die Befürworter der Wehrpflicht, weil sie zunächst so weitermachen können wie bisher, und die Gegner, weil das Gericht keine inhaltliche Verfassungsprüfung vorgenommen hat. Das Landgericht Potsdam, das der Ansicht war, die Wehrpflicht verstoße gegen das Grundgesetz, bekam seine Vorlage von den Richtern in Karlsruhe zurück - aus formalen Gründen.

Der verteidigungspolitische Sprecher der Union, Paul Breuer, freute sich, denn die Gegner der Wehrpflicht hätten eine »Bauchlandung« erlebt. Rudolf Scharping atmete auf, die »scheinjuristische Geisterdebatte« sei nun vorbei. Damit dürfte er sich allerdings getäuscht haben.

Konnte das Gerichtsverfahren noch dazu benutzt werden, die politische Diskussion auf kleiner Flamme zu halten, so braucht sich jetzt niemand mehr zu beschränken. Der Ball sei »an die Politik zurückgespielt«, sagte die Vorsitzende der Grünen, Claudia Roth, ihr Ziel bleibe der »Ausstieg aus der Wehrpflicht«. Der Vorsitzende der Jungsozialisten (Jusos), Niels Annen, will sich gleichfalls »weiter für eine Abschaffung« einsetzen, wie auch der Vorsitzende der SPD im Saarland, Heiko Maas.

Auch die juristischen Kämpfe gehen weiter. Verfassungsrechtlich relevante Fragen wie diejenige nach der Wehrgerechtigkeit seien überhaupt noch nicht behandelt worden, erklärte Wolfgang Menzel, der Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinte Kriegsdienstgegner (DFG-VK). Und Wolfgang Kaleck, der Anwalt des Totalverweigerers Volker Wiedersberg, der mit seiner Klage das Verfahren ins Rollen gebracht hatte, kündigte einige »spannende Anträge« an.

Spannend ist es in jedem Fall zu beobachten, wie quer die Fronten in der Frage der Wehrpflicht verlaufen. Mit nahezu gleichem Wortlaut kommentierten die DFG-VK und die Generalsekretärin der FDP, Cornelia Pieper, die Karlsruher Entscheidung als »Gnadenfrist« für die Wehrpflicht. Beide fordern, ebenso wie die Grünen und die PDS, die Abschaffung des Zwangsdienstes.

Strategische Allianzen sind indes nicht zu befürchten, dafür sind die Motive zu unterschiedlich. Für die Pazifisten gehört das Engagement gegen die Wehrpflicht schon lange zum Programm und wird als »erster Schritt« zu einer Entmilitarisierung der Gesellschaft verstanden. Und tatsächlich würde es dieser Gesellschaft nicht schaden, wenn nicht alljährlich knapp 100 000 junge Männer das Ende ihrer Adoleszenz ausgerechnet mit militärischen Drill und dem Lernen des Tötens verbringen.

Was den »zweiten Schritt« angeht, ist jedoch wenig Gutes zu erwarten. Der FDP, den Grünen und der SPD dient die Diskussion um die Wehrpflicht zu anderen Zwecken. Es geht ihnen um den Umbau der Bundeswehr zu einer schlagkräftigen Interventionsarmee.

Denn mit den Wehrpflichtigen von heute ist kein Krieg mehr zu führen. Wer seine neun Monate Grundwehrdienst abgebummelt hat, der weiß vielleicht, wie man ein Gewehr reinigt und die Unterwäsche auf Kante faltet, aber an moderne High-Tech-Waffen darf man ihn gar nicht lassen, will man nicht die eigenen Verlustzahlen in die Höhe schrauben.

Die Bundeswehr hat daraus ihre Konsequenzen gezogen. Nach dem Abschluss der gegenwärtigen Umstrukturierung soll sie eine Stärke von 277 000 Mann haben, darunter sollen lediglich 77 000 Wehrpflichtige sein. Von diesen wären wiederum 27 000 eigentlich Zeitsoldaten, also Grundwehrdienstleistende, die sich freiwillig länger verpflichten. Nur ein knappes Fünftel beträgt demnach der Anteil der Wehrpflichtigen, und gebrauchen kann man sie eigentlich nicht. Die Einsatzkräfte, die einzigen, die wirklich Krieg führen sollen, werden 150 000 Mann umfassen und fast ausschließlich aus Zeit- und Berufssoldaten bestehen. Zu den Einwänden, die Wehrpflicht garantiere die »demokratische Kontrolle« der Armee und verhindere, dass sie zu einem »Staat im Staate« werde, braucht da nichts mehr gesagt zu werden.

Im Prinzip hatte auch die Wehrstrukturkommission unter Richard von Weizsäcker das Problem erkannt, als sie im Mai 2000 vorschlug, den Anteil der Wehrpflichtigen auf symbolische 30 000 Mann zu begrenzen.

Unterstützung erfährt diese Fraktion der Modernisierer von anderen Nato-Staaten. Denn fast alle verzichten mittlerweile auf die Zwangsrekrutierung. Den Anfang machte mit Frankreich ausgerechnet das Mutterland der Wehrpflicht, ganz ohne kontroverse Debatten und ohne den Sinn der Maßnahme kaschieren zu wollen. Das Militär müsse, um in verschiedensten Regionen der Welt »den Frieden wiederherzustellen«, umgebaut werden.

»Die Professionalisierung der Streitkräfte ist die Antwort auf diese neuen Aufgaben«, ließ das französische Verteidigungsministerium 1997 wissen. Auch Italien, Spanien, Belgien, die Niederlande und Österreich unternahmen diesen Schritt oder haben ihn angekündigt. Großbritannien und die USA haben schon lange Berufsarmeen.

Deutschland hat also wieder einmal den Anschluss verpasst. Fraglich ist deshalb auch, ob die Zusammenarbeit in der für 2004 anvisierten Schnellen Eingreiftruppe der Europäischen Union so reibungslos klappt, wenn ausgerechnet die Armee mit dem größten Kontingent - 18 000 der 60 000 Soldaten sollen Deutsche sein - völlig anders aufgebaut ist.

Dass die alten Strukturen noch vorherrschen, liegt aber nicht nur am Beharrungsvermögen einiger Traditionalisten. In ihrem derzeitigen Zustand braucht die Bundeswehr die Wehrpflichtigen. Ohne sie könne die Bundeswehr »nicht nebeneinander in fünf sicherheitspolitischen Szenarien« mitmischen, erklärte der Bundeswehrverband. Sehr zum Leidwesen der Militärs will nämlich kaum jemand freiwillig zur Bundeswehr gehen. Vor allem im Sanitätsdienst sind die Bewerberzahlen seit Jahren rückläufig. »Der Bedarf konnte noch gedeckt werden«, heißt es lapidar im aktuellen Bericht des Wehrbeauftragen.

Deshalb hofft man darauf, von den 90 000 Wehrdienstleistenden, die pro Jahr zwangsweise durchgeschleust werden, den einen oder anderen zu ködern. Bei Verpflichtung für längere Zeit winken nicht nur die Möglichkeit, eine Ausbildung zu absolvieren, sondern auch beträchtliche finanzielle Vorteile, die für Soldaten »im Einsatz« noch um den steuerfreien so genannten Auslandsverwendungszuschlag von maximal 90 Euro täglich wachsen.

Es reicht trotzdem nicht. Obwohl die Häscher in den Kreiswehrersatzämtern sämtliche Überredungskünste einsetzen, wurde in den vergangenen Jahren das Plansoll an »freiwillig länger dienenden Grundwehrdienstleistenden« regelmäßig verfehlt. Also muss jeder verpflichtet werden, der nur will. Die Rekrutierungspraxis folgt dem Motto: »Quote statt Qualität«.

»Führer berichten, dass der Nachwuchs in qualitativer und quantitativer Hinsicht nicht den Erfordernissen entspreche«, heißt es in einem internen Bundeswehrbericht. An anderer Stelle wird der Ärger darüber wiedergegeben, dass man offenbar »den Bodensatz der Gesellschaft einkauft«.

Ohne Wehrpflicht käme die Bundeswehr nicht auf ihre Personalstärke, mit Wehrpflicht kriegt sie nur einfaches Personal. Diesem begrüßenswerten Dilemma dürfte mittelfristig auch dann nur schwer beizukommen sein, wenn das »Programm zur Steigerung der Attraktivität« doch noch finanziert wird und die Büroausstattungen 19jährige Frischlinge nicht mehr an Computermuseen erinnern.

Es habe »aus guten Gründen« keinen Sinn, die Wehrpflicht in Frage zu stellen, erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder nach der Entscheidung in Karlsruhe. Und diese Aussage besaß durchaus eine gewisse Logik. Denn die Kosten für die Alternative, für eine umfassende Modernisierung der Bundeswehr und ihrer Rekrutierungspraxis, sind derzeit politisch nicht durchsetzbar. Die Modernisierer bei der FDP, den Grünen und der SPD werden ihren Druck in Zukunft erhöhen und früher oder später die Wehrpflicht beseitigen. Am Zweck der Bundeswehr wird das nicht viel ändern. Antimilitaristische Gruppen haben deshalb den Schwerpunkt ihrer Kritik seit längerem auf die Interventionsabsichten Deutschlands und seiner Armee verlegt.