Schröder trifft Walser

Eine Sache des Herzens

Ist der Erste Weltkrieg die Mutter der Katastrophen oder nur deren Cousine? Walser und Schröder diskutierten und einigten sich aufs Nationale.

Ausgerechnet Martin Walser und ausgerechnet jenen Christoph Dieckmann, der vor kurzem in der Zeit mit allerhand selbst gemachten ostdeutsch-protestantischen Gedanken über das Judentum, die Politik Israels und das deutsch-israelische Verhältnis deshalb auffiel, weil sie altbekannten Phrasen aus dem Brevier des Antisemitismus ähnelten, ausgerechnet am 8. Mai in die Parteizentrale der SPD einzuladen, damit sie mit dem Bundeskanzler über die Nation, den Patriotismus und die demokratische Kultur sprächen, während gleichzeitig die Justizbehörden 127 antisemitische Vorfälle in den ersten drei Monaten des Jahres registrierten, brauchte es eine Sorg- und Rücksichtslosigkeit, wie nur die Strategen eines sozialdemokratischen Wahlkampfs sie aufzubringen in der Lage sind.

Ursprünglich war wohl eine zweistündige Reprise des Streits zwischen Walser und Ignatz Bubis geplant, aber als Paul Spiegel, der seinen Vorgänger im Amt des Präsidenten des Zentralrats der Juden vertreten sollte, aus Termingründen absagte, wurde sein Part ersatzlos gestrichen. Gerhard Schröder unterhielt sich also mit zwei Antisemiten, die nur deshalb nicht als solche gelten, weil man in Deutschland viele Antisemitismen von sich geben kann und trotzdem ein Ehrenmann bleibt, solange man selbst ganz sicher ist, kein Antisemit zu sein, und deshalb aufrichtig beteuert, man sei missverstanden worden.

Immerhin gab Dieckmann zu Beginn des Gesprächs, nachdem Schröder und Walser ihre Reden gehalten hatten, eine persönliche Erklärung ab. »Ganz dumm« sei dieser Satz gewesen, den er da geschrieben habe: »Israels Erwählungshybris ist ein Fluch.« Er schäme sich. Entschuldigen könne ihn nur die Empörung über Ariel Sharons Politik, denn sie habe ihm diese Dummheit eingeflüstert.

Empört waren schon vorm Beginn der Veranstaltung viele. Einige darüber, dass sie stattfand, andere darüber, dass sie nicht stattfinden konnte, ohne dass diese sich empörten. Zur ersten Fraktion zählten außer den Mitgliedern und Sympathisanten des Bündnisses gegen Antisemitismus und Antizionismus, die in angemessenem Sicherheitsabstand demonstrieren durften, auch Michael Naumann und Wolfgang Schäuble. Der Auftritt sei ein Affront gegen den Zentralrat der Juden, meinte Schäuble; Walser habe Gräben aufgerissen zwischen seinem »Gefolge« und der jüdischen Gemeinde, schrieb Naumann. »Sie werden noch tiefer; denn inzwischen hat der Autor, unter lässiger Missachtung geschichtlicher Fachliteratur, einen neuen Topos entdeckt: den Versailler Vertrag, der über Hitler zu Auschwitz geführt habe. Die Entente, die Sieger des Ersten Weltkriegs seien zumindest mitschuldig, wenn nicht gar die Stifter deutschen Unheils.«

Die andere Fraktion sah derweil wieder einmal eine Meinungsartillerie am Werk und argwöhnte politische Zensur. Hubert Spiegel flennte in der FAZ sogar von einer »Menschenjagd«, der Walser nach seiner Friedenspreisrede ausgesetzt gewesen sei und die ihren brutalen Höhepunkt vermutlich erreichte, als an der Duisburger Universität einige protestierende Studenten seinen Vortrag störten.

Bis vor kurzem wurde alljährlich am 8. Mai darum gestritten, ob wir das Ende des Zweiten Weltkriegs als Niederlage oder als Befreiung zu empfinden haben. Diese Frage interessiert inzwischen niemanden mehr. Diesmal wiederholte Thomas Steinfeld die gültige Antwort in der Süddeutschen Zeitung. »Der achte Mai ist kein Tag wie jeder andere«, hatte er beobachtet. »Es ist der Jahrestag der deutschen Kapitulation, der Jahrestag der Befreiung der Deutschen vom Nationalsozialismus«, und nicht etwa Europas von den Deutschen. Ähnliche Lektionen wurden dem Publikum nun auch im Lichthof des Willy-Brandt-Hauses erteilt.

»Wir in Deutschland - das sagen wir heute mit Stolz auf unser Land, selbstkritisch, aber auch selbstbewusst patriotisch«, hatte Generalsekretär Franz Müntefering in der Einladung geschrieben, und in seiner Begrüßungsansprache stellte er ganz selbstverständlich fest: »Heute sind wir ein normales Land in Europa.« Schröder hielt eine langweilige Rede, die man genauso schon von Roman Herzog kannte. Er verabscheute die Verbrechen des Nationalsozialismus nach Kräften und mit den gewohnten Mitteln staatsmännischer Rhetorik und routinierter Gestik, ohne dabei das Leid zu vergessen, das auch über die Deutschen gekommen war. Die Sozialdemokraten, lange Zeit als Vaterlandsverräter missverstanden, seien schon immer die besseren Patrioten gewesen. »Wir verteidigen das Deutsche Reich auch als unser Vaterland«, zitierte er August Bebel, und darauf, meinte er, könnten Sozialdemokraten immer noch stolz sein.

Heute allerdings braucht das zeitlose sozialdemokratische »Ja zu Deutschland« moderne Argumente; Schröder fällt es deshalb nicht schwer, weil Deutschland »auf die Werte der Freiheit und der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Teilhabe gebaut« sei. Wenn allerdings die Fußballnationalmannschaft spiele, so gab er zu, könne auch er gewisse Gefühle nicht unterdrücken, die mit der Verfassung gewiss nichts zu tun hätten und ihm aus rationalen Gründen nicht erklärlich seien.

Dann hob Martin Walser an. Dass er der Nation jederzeit die stärksten Gefühle entgegenbringt, hatte man vorher gewusst. »Über ein Geschichtsgefühl« hieß seine Rede, und er unternahm es zu erklären, dass zwar die Staatsbürgerschaft mit dem Verstand zu regeln, die Zugehörigkeit zu einer Nation aber nur zu empfinden sei. Und er wiederholte die bekannten Walserismen von Sachsen und Thüringen, zwei Gefühlslandschaften, die immer zur ungeteilten Nation gehörten, denn Nietzsche und Karl May durften nicht im Ausland geboren sein. »Von den Karolingern zu den Saliern, zu den Ottonen, zu den Staufern, zu den Habsburgern, zu den Hohenzollern - das sind nicht nur heraldische Daten, sondern historische Ströme, die ich erleben kann wie die Donau, den Rhein, die Elbe, die Nordsee oder die Alpen.«

Er sprach von der »Schicksalsgenossenschaft«, aus der die deutsche Nation sich bildete, und vom »Schlimmsten«, das mit der »Mutterkatastrophe« des Ersten Weltkriegs begann. »Ohne diesen Krieg kein Versailles, ohne Versailles kein Hitler, ohne Hitler kein Weltkrieg Zwei, ohne Weltkrieg Zwei nichts von dem, was jetzt unser Bewusstsein oder unser Gefühl bestimmt, wenn wir an Deutschland denken.« Und »das wichtigste Glied in der historischen Kette bleibt: ohne Versailles kein Hitler«.

Walser erfüllte also Michael Naumanns Erwartung, der nur insofern im Unrecht war, als es sich bei »Versailles« beileibe nicht um einen neuen Topos handelt. »Hitler ist ganz und gar eine Ausgeburt von Versailles«, schrieb Walser unmissverständlich schon 1985. Auf Dieckmanns Frage, ob er sich den Vorwurf des Geschichtsrevisionismus nicht vielleicht doch gefallen lassen müsse, entgegnete Walser, er könne mit diesem Begriff nichts anfangen, er habe doch immer nur nach den Ursachen gesucht, weil er es einfach nicht akzeptieren könne, dass die deutsche Geschichte unvermeidlich nach Auschwitz führen musste. Mit dem Gedanken, dass dieses Schlimmste geschehen musste, weil wir so sind, könne er nicht leben. Deshalb forscht er nun so lange schon nach den Ursachen, findet aber immer nur die eine.

Schröder half ihm aus der Klemme, indem er vorschlug, »Versailles« sei nur eine Ursache unter mehreren gewesen und die deutsche Geschichte habe mehrere Möglichkeiten geboten, deren linke von den Kommunisten zerstört worden sei.

Das Publikum schien ganz Walsers Partei zu sein, als er sich gegen all die Missverständnisse und bösen Unterstellungen wehrte. Am besten verstand den deutschesten unserer lebenden Dichter aber wohl Eckhard Fuhr, der in der Welt schrieb: »Martin Walser führte vor, dass republikanische Vaterlandsliebe nicht in eine Vernunftehe münden muss, sondern eine Sache des Herzens sein kann, zu denen (!) auch der immerwährende Schmerz gehört, den die Wunde Auschwitz verursacht.«

Zählbare Wählerstimmen wird dieser Auftritt dem Kanzler wohl nicht einbringen. Er hat sich mit Walser gezeigt, um sich sachte von ihm zu distanzieren und um zugleich dessen Anhängern zu signalisieren, dass der SPD jeder willkommen ist, der beim Gedanken an Deutschland in Gefühlswallungen gerät. Aber daran hatte ohnehin niemand gezweifelt.