Berliner Armutsbericht vorgelegt

Konkret arm

Wer kein Deutscher ist und Kinder hat, ist in Berlin mit großer Wahrscheinlichkeit auch arm.

Nicht nur Berlin ist arm, auch die BerlinerInnen sind es. Das belegt der erste Bericht über Armut und soziale Ungleichheit, den die Senatorin für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz, Heidi Knake-Werner (PDS), in der vorletzten Woche vorstellte. Nein, von einer »Verslummung der Innenstädte« möchte sie nicht sprechen. Bei Fragen nach den politischen Konsequenzen aus den vorgelegten Daten wirkt sie unsicher. »Ich kann mir da jetzt viel denken«, fangen die Sätze Knake-Werners an, die alsbald in amorphen Stichwortsammlungen münden.

Das Ergebnis des Berichts ist verheerend, wenn auch nicht unbedingt überraschend. Die sozialpolitische Sprecherin der Grünen, Elfi Jantzen, merkt an: »Wir kennen die Tendenzen seit der Erhebung des Sozialatlanten 1998«. Dennoch ist man seither über Versprechungen nicht hinausgekommen.

Auf der Basis der Zahlen des Mikrozensus von 1999 gilt nach dem OECD-Standard in Berlin als arm, wer monatlich weniger als 546 Euro zur Verfügung hat. Das entspricht der Hälfte des Durchschnittseinkommens. Auf 12,8 Prozent der Bevölkerung trifft das zu, das sind etwa 435 000 Menschen. Im Westteil sind es sogar 14,2 Prozent, im Osten 10,6.

Insgesamt fallen in Berlin 2,7 Prozent mehr Menschen unter den Begriff der relativen Armut als im Bundesdurchschnitt. »Die Stadt nimmt sicher eine herausragende Stellung ein«, sagt Knake-Werner. Schließlich liegt schon der Einkommensdurchschnitt um 150 Euro unter dem bundesweiten Mittelmaß.

Am schlimmsten ist es um die westlichen Innenstadtbezirke bestellt. In Kreuzberg sind 26,4 Prozent der Haushalte arm, im Wedding ist es knapp ein Viertel und in Tiergarten fast jeder fünfte (17,7 Prozent). Hier wie anderswo gilt: Kinder sind der Hauptarmutsfaktor. Mehr als 25 Prozent der knapp 570 000 Berliner Kinder leben unterhalb der Armutsgrenze, über 15 Prozent der Jugendlichen sind Sozialhilfeempfänger, mehr als doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt.

Hier ist die rot-rote Koalition nicht nur mit dem Vorwurf der allgemeinen Konzept- und Perspektivlosigkeit konfrontiert, sondern auch mit dem, an den falschen Stellen zu sparen. »Mit dem Haushaltsentlastungsgesetz wird eine perverse Politik weitergetrieben. Bei den Kindertagesstätten werden statt vorher 16 bald 22 Kinder pro ErzieherIn kommen, auf 160 Kinder kommt dann eine Freistellung für Leitungsaufgaben«, kritisiert Jantzen.

Überdurchschnittlich oft sind Alleinerziehende mit Kindern unter 18 Jahren von Armut betroffen, ebenso ältere, alleinstehende Frauen. Vor allem aber MigrantInnen. 1999 lebten rund 387 000 MigrantInnen in Berlin, darunter etwa 126 000 türkische BerlinerInnen. Nicht zufällig wohnen die meisten von ihnen in den Bezirken Kreuzberg, Neukölln, Wedding und Tiergarten. Und 150 000 von ihnen gelten nach Knake-Werners Bericht als arm.

Familien nicht deutscher Herkunft leben also mit hoher Wahrscheinlichkeit in Berlin an oder unterhalb der Armutsgrenze, in Gebieten mit schlechterer sozialer Infrastruktur und weniger Arbeitsmöglichkeiten. Perspektivlosigkeit und Frust sind die unmittelbare, soziale und kulturelle Abgrenzung die mittelbare Konsequenz.

Dazu trägt nicht zuletzt das deutsche Schulsystem bei, das immer noch hochgradig selektiv und diskriminierend ist, wie zuletzt die Pisa-Studie belegte. Der Anteil der Studierenden aus Akademikerhaushalten stieg um die Jahrtausendwende auf 52 Prozent, während nur ein Viertel derjenigen studiert, deren Eltern nur einen Hauptschulabschluss besitzen.

Das bedeutet für MigrantInnen eine doppelte Diskriminierung. Deutschland verzichtete 40 Jahre lang auf eine Politik, die ein besseres Zusammenleben möglich gemacht hätte, und negierte den Status des Einwanderungslandes. Der »Gastarbeiter« sollte der deutschen Wirtschaft über den zeitweiligen Arbeitskräftemangel hinweghelfen, die dreckigen Jobs übernehmen und dann gefälligst wieder nach Hause zurückkehren.

Nun steht Deutschland und insbesondere Berlin vor den Trümmern dieses Selbstverständnisses. In den Armutsgebieten in Kreuzberg existieren fast schon Parallelgesellschaften. Zwar spielen für ein funktionierendes Zusammenleben verschiedene Faktoren eine Rolle - neben der Herkunft der MigrantInnen zum Beispiel das Einreisealter und die soziale Schichtenzugehörigkeit.

Dennoch spiegeln die Zahlen eine eindeutige Tendenz wider. Knapp zwei Drittel (61,7 Prozent) der Berliner MigrantInnenkinder besuchen die Hauptschule, die AbbrecherInnenquote ist mit 26,6 Prozent doppelt so hoch wie im Durchschnitt. Während rund ein Drittel aller Berliner SchülerInnen das Abitur macht, sind es nur 10,9 Prozent bei den MigrantInnen.

Auch die Zahl ausländischer Jugendlicher, die in Deutschland einen Ausbildungsplatz erhalten, ist gesunken. Das fand der Berliner Sozialwissenschaftler Klaus Kohlmeyer heraus. Anfälligkeit für religiösen Extremismus und kulturelle Abschottungen sind vor allem die Folge davon, dass es MigrantInnen kaum möglich ist, sich in der Gesellschaft zu etablieren und gleichzeitig ihre Identität zu wahren.

Der wichtigste Ansatzpunkt für die Integration, da ist sich Jantzen mit dem sozialpolitischen Sprecher der CDU, Gregor Hoffmann, einig, ist die Vermittlung der deutschen Sprache. Dass hier die große Koalition nach 1998 die dramatische Situation allenfalls zu konservieren versuchte, erwähnt der CDU-Abgeordnete nicht.

Und doch weisen Jantzen und Hoffmann auf die gleichen Mängel der Berliner Haushaltspolitik hin. Im nächsten Jahr wird ein großer Teil des Geldes für vorschulische Bildungseinrichtungen, Sportvereine und freie Träger, die wichtige Funktionen bei der Sprach- und Bildungsvermittlung übernehmen, eingespart. »Der Senat«, meint Jantzen, »kürzt bei den Bezirken die Infrastrukturmittel und legt Sonderprogramme auf.« Probleme werden zwar erkannt, aber vertagt. »Wir würden ja mitwirken«, lamentiert Hoffmann, »aber das ist ein einziges Stochern!« Lösungen für Berlin haben die beiden genauso wenig anzubieten wie Knake-Werner und verweisen stattdessen auf den Bund.

Von ihm aber ist vermutlich auch in Zukunft nichts Gutes zu erwarten. Als unlängst der Kanzlerkandidat Edmund Stoiber (CSU) klar gegen den Eintritt der Türkei in die Europäische Union Stellung bezog, begründete er seine Haltung damit, dass er »die europäischen Außengrenzen nicht bei Syrien oder dem Irak« sehe. Ihm geht es also um eine kulturelle Reinhaltungsgrenze, um die logische Fortführung der Politik, die einem Großteil von MigrantInnen strukturell den Weg in die bundesdeutsche Gesellschaft verbaute.

Die Reichtumsrangliste Berlins wird von Zehlendorf angeführt, auf rund 640 Einwohner kam hier Mitte der neunziger Jahre ein Einkommensmillionär. Der Armutsbericht verzeichnet nur 5,3 Prozent Haushalte, die von relativer Armut betroffen sind. Seltsam, dass auch die Döner Kebab- und Trainingsanzugsquoten in diesem Stadtteil so gering sind, obwohl die FAZ zu berichten weiß: »Eine gewisse Schäbigkeit und Armseligkeit gehört zum traditionellen Selbstverständnis Berlins.«