Explosion im Vakuum

Die Konservativen in den USA wollen den Mittleren Osten durch einen Machtwechsel im Irak demokratisieren. Doch die einzigen möglichen Verbündeten in der Region wurden von den USA jahrzehntelang bekämpft.

Zum Jahrestag der Anschläge des 11. September werden die ehemaligen Linken in den europäischen Ministerämtern schmerzhaft an ihre Vergangenheit erinnert. Während am letzten Freitag rund 100 britische und US-amerikanische Kampfflieger irakische Flugabwehrstellungen bombardierten, die bei einem möglichen Luftangriff im Wege stünden, beharrt Joseph Fischer darauf, dass weder eine Verbindung zwischen dem Irak und al-Qaida bestehe, noch von Saddam Hussein eine wirkliche Bedrohung ausgehe.

Eine direkte Unterstützung der Attentäter durch den Irak unterstellen die Falken, eine kleine aber vergleichsweise einflussreiche Gruppe innerhalb des US-Establishments, indes auch gar nicht, wenn sie von der Notwendigkeit einer vollständigen Umwälzung der Region sprechen. Bin Laden und Saddam erscheinen ihnen vielmehr als zwei Erscheinungen desselben Problems, das in der vollständigen Erstarrung des arabischen Nahen Ostens besteht. Die Region habe sich, wie Jonah Goldberg in der National Review bemerkte, von einer einstmals blühenden Kultur »in eine Sickergrube« verwandelt, in der sich nichts als »Bigotterie, Armut und jede Art der Unterdrückung« ansammele. Vor 20 Jahren hätte er Fischer, der seinerzeit ein Freund des palästinensischen Befreiungskampfes war, damit wohl aus dem Herzen gesprochen.

Denn in ihren besseren Zeiten, bevor sie im »nationalen und islamischen Widerstand« aufgingen, betonten linke arabische Parteien wie die palästinensische PFLP, dass das »zionistisch-imperialistische Gebilde« und die reaktionären arabischen Regimes unterschiedliche Ausdrucksformen derselben imperialistischen Politik in der Region seien. Eine Umwälzung dieser Verhältnisse sei nur mittels einer sozialen Revolution möglich, und die müsse es auch in den arabischen Staaten geben.

Zugleich habe der Imperialismus die hierfür notwendige revolutionäre Avantgarde erzeugt, nämlich die palästinensischen Feddayin, die erst durch das erzwungene Exil aus ihren Feudalstrukturen gerissen wurden. So viel zum objektiv fortschrittlichen Charakter des Imperialismus einst.

Nach 1967 verkam dieser arabische Antiimperialismus zur ideologisch erstarrten Konvention, nicht nur in den antikommunistischen und panarabisch ausgerichteten Regimes in Syrien und dem Irak, sondern auch in den gleichfalls antikommunistischen Bündnisstaaten des Westens. Die Paradoxie, dass Klerikaloligarchien wie in Saudi-Arabien und den Vereinigten Emiraten nicht nur Organisationen wie die Taliban, sondern auch Parteien finanziell und logistisch unterstützen, deren erklärtes Ziel es bis heute ist, den »Imperialismus« und seine Statthalter zu bekämpfen, zeigt, wie wenig diese Konvention geeignet ist, die Herrschaftsstrukturen aufzubrechen.

Arabische Intellektuelle wie der Libanese Youssef Choueiri kritisierten diese Entwicklung, lange bevor man in Washington auf die Idee kam, darin eine Bedrohung zu sehen. Systematisch wurde den Bevölkerungen der arabischen Länder die Teilhabe an der sich zum Teil rasant entwickelnden Ölrente vorenthalten, während jede oppositionelle Äußerung und Kritik an den erbärmlichen Zuständen mit dem Verweis auf den äußeren Feind unterdrückt wurde. Dass »bislang noch kein arabisches Regime durch freie Wahlen seine Macht verloren oder wenigstens die absolute Mehrheit verpasst« hat, ist für Choueiri nicht allein das Ergebnis von Repression, sondern auch der Ausdruck eines hermetisch abgedichteten Weltbildes, das den Gedanken nahezu ausschließt, Besserung könnte durch Veränderung im eigenen Lande, beispielsweise durch einen Regierungssturz, erzeugt werden.

Den als Bedrohung oft beschworenen »arabischen Massen« war es bislang nicht einmal dann vergönnt, ihre Regierungen zu stürzen, als diese, wie 1967, in verheerenden Kriegen geschlagen wurden. Solange die Unzufriedenheit sich regelmäßig nur in kurzen Straßenriots gegen Preiserhöhungen, dem Verbrennen israelischer und US-amerikanischer Fahnen und dem Zulauf zu islamischen Organisationen äußerte, wurde sie nicht als existienzielle Bedrohung wahrgenommen. Es hätte Ussama bin Ladens nicht bedurft, um darzustellen, dass die islamistischen Killer nicht nur aus der Mitte der Gesellschaft stammen, sondern sich auch in den Staatseliten so selbstverständlich bewegen wie ein Fisch im Wasser. Pierre Bourdieu ist deshalb darin zuzustimmen, dass Fundamentalismus eine »extreme, aber verständliche Reaktion auf die Lage der arabischen und islamischen Staaten ist«.

Schließlich hat der islamistische Terror gegen die USA sich direkt aus deren verfehlter Stabilisierungspolitik am Golf entwickelt. Nicht nur, weil al-Qaida im Schatten des »amerikanischen Djihad« in Afghanistan stark wurde, sondern weil die USA den gegen die iranische Revolution und die Sowjetunion gleichermaßen gerichteten Zustand vollständiger Unbeweglichkeit als Stabilität missverstanden. Mit US-amerikanischer Hilfe wurden Regimes künstlich am Leben gehalten, deren Sturz seit Jahrzehnten auf der Tagesordnung steht.

Auch die Containment-Politik der USA gegenüber dem Irak nach 1991, vor allem die fehlende Unterstützung des Volksaufstandes gegen Saddam Hussein, folgte mehr oder weniger diesem Muster. Statt Umwälzung setzte man auf Erstarrung, ein Zustand, der wiederum lediglich den Saddams und bin Ladens zugute kam, deren Nähe zueinander eben nicht nur im Willen begründet liegt, den massenhaften Tod von Menschen herbeizuführen, die auch aus arabischer oder islamischer Perspektive unschuldig sind, sondern deren vermeintlicher Kampf gegen die bestehenden Verhältnisse lediglich die Gewalttätigkeit dieser Verhältnisse deutlich offenbart. Im Gegensatz zu Ussama bin Laden, dem amerikanische Spezialeinheiten wie einem Phantom durch Höhlenfestungen nachjagen, sitzt Saddam Hussein einem Staat vor, der den Schlüssel zur Lösung bieten könnte.

Wenn im Irak nämlich US-amerikanisches Militär erneut einen Volksaufstand gegen Saddam Hussein auslösen könnte und damit erstmals in der jüngeren Geschichte der arabischen Staaten eine Regierung quasi von der eigenen Bevölkerung gestürzt würde, eröffnete das eine nahezu ungeheuerliche Perspektive für die ganze Region. Der Bann wäre gebrochen, der die arabischen Gesellschaften bislang hat in Paralyse versinken lassen. Dies zumindest hoffen die Hawks im Pentagon. Man müsse, fordert deshalb Victor D. Hanson im konservativen Commentary, im Nahen Osten »eine wirkliche Revolution einleiten, auch um hoffentlich den gefürchteten Clash of Civilisations zu verhindern«. Die von Vizepräsident Dick Cheney in Aussicht gestellte Demokratisierung des Irak könne nur ein erster Schritt sein.

So richtig diese Analyse sein mag: Sollten die USA, was zu hoffen wäre, einen Paradigmenwechsel in ihrer Nahost-Politik vornehmen, stünden sie vor dem Problem, dass sie in den letzten 40 Jahren geholfen haben, noch jedes für eine Revolution benötigte revolutionäre Subjekt auszuschalten. Zwar stünde heute nur eine »bürgerliche Revolution« an, die, wie der israelische Marxist Moshe Zuckermann gelegentlich feststellte, mit ihren Begleiterscheinungen wie der Trennung von Staat und Kirche und einer einigermaßen selbstbewussten Bourgeoisie das wäre, was der Nahe Osten dringend benötigt. Mit wem aber die Falken, die selbstbewusst auf die Erfolge der USA in Deutschland und Japan verweisen, diese Revolution herbeizuführen gedenken, bleibt unklar.

Sie forcieren selbstredend nicht aus Philantrophie den Sturz des irakischen Präsidenten, sondern weil sie eine Umwälzung der Verhältnisse im Nahen Osten ohnehin und sicher sind, nur mit radikalen Mitteln die Interessen der USA wahren zu können. Bislang aber verstanden es lediglich bin Laden, Saddam Hussein und die Hamas, entsprechenden Unmut auch zu nutzen und regressiv zu wenden; bis al-Qaida am 11. September, quasi die Machtfrage stellend, die USA herausforderte.

»Die Zeit«, warnte deshalb Dick Cheney, »arbeitet gegen uns«, und Jeff Jacoby, Kolumnist des Boston Globe, schrieb: »Die große Bedrohung ist im Nahen Osten heute der islamische Faschismus, und Saudi-Arabien ist nicht sein Opfer, sondern seine Quelle. Was jetzt benötigt wird, ist eine konstruktive Instabilität, die mit den Diktatoren und Fanatikern, die den Terrorismus unterstützen und den Weltfrieden gefährden, ein für alle Mal Schluss macht.«

Andere Verbündete als jene »demokratischen Kräfte«, die man jahrelang bekämpft hat und von deren Stärke man wenig weiß, sind nicht in Sicht. Glaubt man allerdings Goldberg, »so gibt es unzählige Millionen von Arabern, die sich nichts sehnlicher wünschen als ein normales Leben und die bei der ersten sich bietenden Gelegenheit ihre ideologischen Scheuklappen abwerfen würden«.

Was wie eine »List der Geschichte« erscheint, die früher den Marxisten eine helle Freude gewesen wäre, veranlasst die auf den Hund gekommene europäische Linke, ob in Regierungsämtern oder »außerparlamentarisch« tätig, im Namen des Friedens alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, den unhaltbaren Status Quo zu zementieren. Darauf bauen sowohl bin Laden als auch Saddam.