Revanche ist süß

Weg mit den Benes-Dekreten! Das fordert jetzt auch die bayerische SPD. Otto Schily hat es ihr vorgemacht. von paul wellsow

Wenn »die Vertreibung der Sudetendeutschen und anderer deutscher Volksgruppen aus Mittel- und Osteuropa« als »Unrecht« und die so genannten Benes-Dekrete als »menschenrechtswidrig« bezeichnet werden, klingt das nach Edmund Stoiber und der vertrauten Rhetorik der CSU. Doch mit diesen Worten forderten jüngst Bayerns Sozialdemokraten die Aufhebung der besagten Dekrete des ehemaligen tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Benes, die eine Umsiedlung der Sudeten im Zuge der Neuordnung Europas nach 1945 vorsahen.

Anfang Dezember stimmte die SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag einem entsprechenden Antrag der CSU zu. Darin werden die Umsiedlungen als »von Anfang an menschenrechtswidrig« beschrieben und die Tschechische Republik sowie alle Länder, aus denen »Deutsche vertrieben« worden seien, aufgefordert, diese »Unrechtsdekrete und -gesetze« aufzuheben. Zugleich wird an die Bundesregierung appelliert, sich bei der tschechischen Regierung und der EU für diese Forderung einzusetzen.

Der Antrag berief sich ausdrücklich auf Äußerungen des Bundesinnenministers Otto Schily (SPD), der im Mai des vergangenen Jahres auf dem Sudetendeutschen Tag die Aufhebung der Dekrete forderte. Damit sprach er sich de facto für die Revision der in Potsdam im Jahr 1945 beschlossenen europäischen Nachkriegsordnung aus. Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung war das damals eine »kleine Sensation«, und die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV), Erika Steinbach, bescheinigte Schily, er habe ein Umdenken im Sinne der Vertriebenen bewirkt.

Tatsächlich scheint es zu einer Annäherung zwischen den Sozialdemokraten und den Vertriebenen zu kommen. Erst im vergangenen Sommer wurde der Sozialdemokrat Albrecht Schläger, ein Mitglied der Sudetendeutschen Landsmannschaft, zum Vizepräsidenten des BdV gewählt. Damit ist zum ersten Mal seit 30 Jahren wieder ein Sozialdemokrat an die Spitze des Verbandes getreten.

Schlägers Wahl zeige, dass »die Verbände der Heimatvertriebenen einen guten Kontakt zur SPD pflegen«, stellte der Fraktionsvorsitzende der SPD im bayerischen Landtag, Franz Maget, erfreut fest. Das sei besonders im Hinblick auf die Ost-Erweiterung der EU von Bedeutung, denn die Kontakte der organisierten Vertriebenen nach Osteuropa stellten eine »ganz wichtige politische Gesprächsebene« dar.

Gerade bei der Ost-Erweiterung werden die Differenzen zwischen der Union und der SPD, aber auch ihre Gemeinsamkeiten in der Frage der Beziehungen zur Tschechischen Republik deutlich. So forderte die Union immer wieder die Aufhebung der Dekrete als Bedingung für einen Beitritt Tschechiens zur EU. Dadurch sollte vermeintliches Unrecht anerkannt, aber vor allem die Grundlage für Rückgabe und Entschädigung geschaffen werden. Für Lubomir Zaoralek, den ehemaligen Vorsitzenden des außenpolitischen Ausschusses des tschechischen Parlaments, ist klar, dass es bei der Diskussion um die Benes-Dekrete vor allem um die »Revision der Nachkriegsereignisse und um Eigentum« geht.

Auf dem Gipfeltreffen der EU in Kopenhagen wurde Mitte Dezember die Tschechische Republik zwar in die Gemeinschaft aufgenommen, ohne dem Land die Aufhebung der Dekrete abzuverlangen. Somit wurde die versuchte Erpressung der tschechischen Regierung durch die Vertriebenen und die Konservativen vorerst zurückgewiesen. Doch die deutschen Ansprüche bleiben bestehen.

Denn auch die rot-grüne Bundesregierung geht davon aus, dass die Umsiedlungen unrechtmäßig und menschenrechtswidrig gewesen seien. Das bestätigte jüngst Hans Martin Bury (SPD), der Staatsminister für Europa: »Die jetzige und alle vorherigen Bundesregierungen haben die entschädigungslose Enteignung und Vertreibung Deutscher aus der damaligen Tschechoslowakei auf der Grundlage der Benes-Dekrete immer für völkerrechtliches Unrecht gehalten.«

Nur sah die Bundesregierung darin kein Hindernis für einen EU-Beitritt Tschechiens, da sie davon ausging, dass die Dekrete »in ihrer Wirkung erloschen« seien. Unterstützt wurde sie dabei von dem deutschen Völkerrechtler Jochen Frowein, der im Auftrag des Europäischen Parlaments ein juristisches Gutachten über die Dekrete erstellte. Das Ziel der Bundesregierung war es, die Ost-Erweiterung der EU zügig voranzubringen. Die Berücksichtigung der Forderung nach einer Aufhebung der Dekrete hätte den Zeitplan für die Aufnahme der osteuropäischen Länder gehörig durcheinander gebracht.

Schilys Forderung auf dem Sudetendeutschen Tag schien daher überhaupt nicht ins Konzept zu passen. Die Bundesregierung bemühte sich um Schadensbegrenzung und versicherte, die gegenseitigen »Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten« zu wollen, wie es 1997 in der deutsch-tschechischen Erklärung vereinbart worden war.

Aber die Diskussion ist noch lange nicht beendet. Denn die Koalitionsparteien bestehen auch nach dem EU-Beitritt Tschechiens weiterhin auf der Unrechtmäßigkeit der Umsiedlungen, obwohl sie alliiertem Recht entsprachen. Immer wieder wird eine Entschuldigung und die Anerkennung des Unrechts gefordert.

So verlangte der Sprecher der SPD für europäische Angelegenheiten, Günter Gloser, eine »selbstkritische Diskussion« in Tschechien. Und auch die Eigentumsfrage ist für die Bundesregierung noch nicht endgültig beantwortet. »Durch den deutsch-tschechoslowakischen Vertrag von 1992 und die deutsch-tschechische Erklärung von 1997 konnte für Rückerstattungs- und Vermögensfragen keine eindeutige Klärung erreicht werden«, heißt es auf der Website der Bundesregierung. Schröders ehemaliger außenpolitischer Berater Michael Steiner betonte, dass individuelle Klagen gegen Enteignungen weiterhin möglich seien.

Im Vergleich zur »harten« Linie der Konservativen, die offen revanchistische Forderungen formulieren, erscheint die rot-grüne Politik als das kleinere Übel, besonders wenn die Rede von Versöhnung und Dialog ist. Doch auch diese »weiche« Linie umfasst Forderungen nach Entschädigung, nach der Rückgabe von Eigentum und der Annullierung der Benes-Dekrete.

Die Erfüllung dieser Forderungen würde sowohl die tschechische Eigentumsordnung als auch die politische Ordnung des Landes auf den Kopf stellen. So erweist sich die sozialdemokratische Außenpolitik einmal mehr als »Aggression auf Filzlatschen«, wie der frühere Außenminister der DDR, Otto Winzer, sie einst charakterisierte.