Singles ohne Glück

Vor zehn Jahren wurde die Tschechoslowakei geteilt. Für die meisten ehemaligen Staatsbürger ist das kein Grund zum Feiern. von kerstin eschrich

An den Moment, als das Ende der Tschechoslowakei verkündet wurde, kann sich Jaroslav Rudis noch genau erinnern. Er lag gerade mit seiner slowakischen Freundin im Bett, als er aus dem Fernsehen erfuhr, dass sie künftig zwei verschiedenen Nationen angehören sollten. Kurz vor Mitternacht verkündeten die Ministerpräsidenten der beiden Teilrepubliken, Vaclav Klaus und Wladimir Meciar, das Ergebnis ihrer Verhandlungen: Die Tschechoslowakei (CSFR, zuvor CSSR) werde am 31. Dezember 1992 aufgelöst. Beide Studenten glaubten ihren Ohren nicht zu trauen.

Und sie waren nicht die Einzigen. Der tschechische Soziologe Jan Hartl geht davon aus, dass in jener Zeit nur 35 bis 40 Prozent der Bevölkerung die Auflösung der Tschechoslowakei unterstützten. Rudis ist sich sicher: »Wenn es damals eine Volksabstimmung gegeben hätte, wären wir noch heute ein Land.«

Heute arbeitet Rudis als Jounalist und Schriftsteller in Prag. Seine damalige Freundin lebt im Ausland, in der Slowakei. Sie heiratete einen ehemaligen tschechoslowakischen Jagdflieger, der sich als Slowake versteht und Rudis irgendwann vorwarf, dass »die Tschechen« seine Frau verdorben hätten. Derartige Ressentiments sind zehn Jahre nach dem Ende der CSFR allerdings die Ausnahme.

Zwar gelten die Slowaken in der tschechischen Republik rechtlich als Ausländer, sie haben aber inzwischen Zugang zu den Universitäten und zum Arbeitsmarkt. Wegen der besseren wirtschaftlichen Lage arbeiten derzeit schätzungsweise 65 000 Slowaken legal in ihrem Nachbarland, mehr als zu Zeiten der CSSR.

So suchte Ivan Sykora in Prag eine Stelle, da es in der Slowakei nur möglich sei, »kurzfristige Jobs zu finden«. Ansonsten habe »man keine Perspektive«. In Radio Prag berichtet er, wie unproblematisch der Aufenthalt in Tschechien ist: »Wir haben nicht das Gefühl, im Ausland zu sein. Wenn wir in der Kneipe sitzen, sind die Tschechen nett zu uns, einige sagen sogar, dass es besser war, als wir noch in einem gemeinsamen Staat zusammenlebten.« Diese Auffassung teilt auch er.

Kein Wunder, dass sich der Jubel über die »samtene Scheidung«, wie die Auflösung der CSFR in Anlehnung an die »samtene Revolution« von 1989 genannt wird, selbst in offiziellen Stellungnahmen in Grenzen hält. Auch die Bilanz des tschechischen Regierungschefs Wladimir Spidla zum zehnten Jahrestag fiel recht nüchtern aus. Es solle den Historikern überlassen bleiben, die Gründe und Folgen der Teilung zu untersuchen, erklärte er lapidar.

Auffallend ist, dass scheinbar niemand die Verantwortung für den Zerfall der Tschechoslowakei übernehmen will. Allgemein wird davon ausgegangen, dass die damaligen Vorsitzenden der nationalistischen Bewegung für eine Demokratische Slowakei (HZDS), Meciar, sowie der konservativen Demokratischen Bürgerpartei (ODS), Klaus, die Trennung forcierten.

Nachdem sie im Juni 1992 die Parlamentswahlen in den jeweiligen Teilrepubliken gewonnen hatten, arbeiteten sie eilig an der Sezession. Die slowakische Seite wollte die Föderation zunächst in eine lockere Konföderation umwandeln, was die ODS ablehnte. Da man sich auch auf nichts anderes verständigen konnte, wurde einfach beschlossen, den Staat ganz aufzulösen.

Besonders glücklich scheint aber auch Klaus nicht über die ihm zugeschriebene Rolle bei der Schaffung der zwei neuen Staaten zu sein. In einem Artikel in der Prager Zeitung wehrte er sich im Dezember gegen Aussagen, dass er und Meciar »die Tschechoslowakei aufgeteilt« hätten. Er macht stattdessen vor allem die Slowakei für die Trennung verantwortlich. Zudem seien auf beiden Seiten über eine längere Zeit hinweg der Nationalismus und gegenseitige Antipathien angewachsen. Klaus ist davon überzeugt, dass schon aus dem Streit über den Namen oder die Symbole eines gemeinsamen Staates große Gefahren hätten erwachsen können.

Ganz anders sieht das der ehemalige Botschafter der Tschechoslowakei in Berlin, Frantisek Cerny, der nach der Trennung dieses Amt für die Regierung in Prag ausübte. Für ihn war die Schaffung zweier Staaten nicht die Lösung der Probleme. »Die Teilung hat beiden Seiten viel Schaden gebracht, auf wirtschaftlicher, kultureller und internationaler Ebene.« Der tschechische Markt wurde um ein Drittel verkleinert, der slowakische entsprechend auf ein Drittel beschränkt. Keine guten Voraussetzungen für zwei Länder, die erst kurze Zeit dem kapitalistischen Markt ausgesetzt waren.

68 Jahre lang hatten Slowaken und Tschechen in einem gemeinsamen Staat gelebt. Kurz nach dem Ende des Ostblocks war zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrhunderts Schluss. Die Tschechoslowakische Republik (CSR) war zuerst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gegründet worden. Allerdings strebten slowakische Nationalisten, da sie sich von den Tschechen dominiert fühlten, bereits nach kurzer Zeit nach Autonomie.

Am Tag bevor die Deutschen das tschechische Territorium besetzten, am 14. März 1939, erfüllte sich ihr Traum, die slowakische Republik wurde ausgerufen. Allerdings war sie nichts weiter als ein nationalsozialistischer Marionettenstaat. 1945 wurde die zweite, föderativ strukturierte Republik gegründet. 1960 wurde der Staatsname um ein weiteres »S« (für »Sozialistisch«) ergänzt, das 1990 wiederum durch ein »F« (für »Föderativ«) ersetzt wurde. Zwei Jahre später entstanden die Tschechische und die Slowakische Republik als separate Staaten.

Wie bei Trennungen üblich, wurde auch nach der Staatsauflösung noch kräftig gestritten. Konfliktpunkte waren Immobilien im In- und Ausland, die Aufteilung des Staatsvermögens und die gemeinsame Grenze. 1992 einigte man sich darauf, dass die Bürger beider Länder die Grenze problemlos passieren können sollten. Doch damit war Schluss, als Deutschland begann, sich gegen Flüchtlinge abzuschotten, und die so genannte Drittstaatenregelung einführte.

Tschechien hätte demnach alle aus Deutschland gewiesenen Migranten aufnehmen müssen, da nicht nachzuweisen war, dass sie die slowakische Grenze passiert hatten. Prag forderte daher die slowakische Regierung dazu auf, ihre Grenzen strenger zu bewachen. Zunächst ohne Erfolg. Erst im Sommer 1994 unterzeichneten die tschechischen und slowakischen Innenminister auf deutschen Druck eine Reihe von Abkommen, die, sehr zum Verdruss aller Bewohner der Grenzregion, die Reisemöglichkeiten deutlich einschränkten.

Vier Jahre später kam es wegen des geplanten tschechischen EU-Beitritts erneut zu Konflikten, als der damalige Innenminister Cyril Svoboda ankündigte, die Grenzkontrollen weiter zu verschärfen. Der slowakische Ministerpräsident Meciar betrachtete das als einen Affront gegen sein Land.

Die nationalistische Regierung in Bratislava hatte sich mittlerweile alle Sympathien bei den westlichen Nachbarn verscherzt. Vor allem der Vorschlag, die slowakische Minderheit in Ungarn und die ungarische Minderheit in der Slowakei »freiwillig« in ihre »ursprüngliche Heimat« umzusiedeln, erregte internationales Aufsehen. Bereits Mitte der neunziger Jahre waren fast alle Ausländer aus der Slowakei ausgewiesen worden. Eher komisch wirkte dagegen die Anordnung Meciars, alle tschechischen Filme mit slowakischen Untertiteln zu versehen. Erst nachdem er 1998 abgewählt wurde, entspannte sich das Verhältnis zu Tschechien und zum Westen.

Im Dezember des vergangenen Jahres gab die EU Beitrittsanträgen beider Länder statt. Zudem beschloss die Nato, die Slowakei in das Bündnis aufzunehmen, dem Tschechien bereits seit 1999 angehört. Für Cerny steht fest, dass zumindest die immensen Ausgaben für den Ausbau der Grenzanlagen überflüssig waren.