Ein sehr deutscher Verein

Klaus Brieglebs Studie zum Antisemitismus in der Gruppe 47. von felix klopotek

Die Gruppe 47 wird zum Besten gerechnet, was das post-faschistische Deutschland in den fünfziger und sechziger Jahren zu bieten hatte: eine Literatengruppe junger »Linksintellektueller« (Peter O. Chotjewitz) unter Leitung der »sauber gebliebenen« Wehrmachtssoldaten Alfred Andersch und Hans Werner Richter. Ihre frühe Zeitung, der 1946/47 in München verlegte Ruf, gilt als links und antifaschistisch und schon wieder als so bemerkenswert eigenständig und stolz, dass die Amerikaner sie prompt verboten. Die Gruppe 47 steht für die Neubegründung der deutschen Literatur nach 1945, für das Wiedererlangen einer demokratischen Streitkultur. Peter Chotjewitz drückt das etwas nüchterner aus: »In einundzwanzig Dienstjahren entstand ab 1947 eine pressure group, deren Wortführer (durchaus männlich) noch heute zur Nomenklatur der westdeutschen Nachkriegsliteratur zählen – Andersch, Böll, Enzensberger, Grass, Jens, Lenz, Walser –, allesamt mittelprächtige Talente, die ohne ihre politische Maulhuberei nicht so berühmt geworden wären, was sie nicht daran hinderte, sich als Opfer einer konservativen Verschwörung hinzustellen.«

Heute wird die Gruppe 47 durchaus widersprüchlich bewertet – ihre Vorstellungen gelten als überwunden, als bloß noch historisch; die Gruppe gilt aber weiterhin als unverzichtbarer Bezugspunkt unseres literarischen Selbstverständnisses.

Der Philologe Klaus Briegleb will in seinem kürzlich erschienenen Buch »Missachtung und Tabu« die Frage nach der Rolle der Gruppe 47 grundsätzlicher fassen, dabei auch subtiler, genauer, polemischer. Der Untertitel des Buches lautet: »Eine Streitschrift zur Frage: Wie antisemitisch war die Gruppe 47?« Diese Fokussierung der Kritik hat in einigen Rezensionen ebenso widersprüchliche Reaktionen hervorgerufen: Einerseits heißt es, Briegleb sage nichts Neues, denn dass es innerhalb der Gruppe Antisemitismus gab, sei allgemein bekannt. Andererseits wird Briegleb vorgeworfen, dass er sein Thema verschenke, dass er, wie es in der Zeit hieß, das Material verschleudere, das er in den Händen halte. Was denn nun? Ist der Antisemitismus der Gruppe etwa doch nicht hinreichend erforscht und bekannt?

Die Irritation, die Briegleb hervorruft, hat damit zu tun, dass er eben nicht die Frage stellt, ob die Gruppe 47 antisemitisch war – und dann im Stil der Entlarvung die entsprechenden Fakten und Aussagen präsentiert. Es geht ihm nicht mehr darum, ob die Gruppe antisemitisch war, sondern wie antisemitisch sie war. Gleich zu Beginn formuliert er programmatisch: »Der Vorwurf, die Gruppe 47 sei antisemitisch, ist so alt wie die Gruppe selbst. Er wird in diesem Buch nicht wiederholt. Denn dieser Vorwurf ist an und für sich, nicht nur im Fall der Siebenundvierziger, zu einem Stereotyp geworden, der die wichtigen Fragen, die an den deutschen Antisemitismus nach 1945 noch zu stellen sind, nicht einmal berührt.« Es geht ihm um Mechanismen, um mal bewusste, mal unbewusste Strategien, den Antisemitismus nach 1945 zu äußern – in der Form der Verdrängung, des selbstbewussten Neubeginns, des genervten Auftretens gegenüber Emigranten und Überlebenden.

Wirklich straight argumentiert Briegleb allerdings lediglich auf den ersten Seiten. Bald schon vertieft er sich in die Analyse dieser Mechanismen, in die ideologiekritische Auseinandersetzung mit klassischen Texten und öffentlichen Auftritten von 47er-Autoren, sodass der Leser schnell den Eindruck hat, Briegleb selbst verliere den Überblick. Um nicht ganz in den zahlreichen Close Readings, Abschweifungen, methodischen Erläuterungen, eingeschobenen Kommentaren, ausführlichen Anmerkungen und Gegenreden zu versinken, sollte man sich ruhig öfters der Grundproblematik des Buches vergewissern. Briegleb formuliert sie nicht selbst, er zitiert ausführlich einen Text Salomon Korns, den dieser am 9./10. November 2002 in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht hat. Seine Schlüsselsätze lauten: »Die Wirkungsmacht einer durch schnelle Straffreiheitsgesetze und Mythenbildung geschönten Vergangenheit zeigt sich am Wandel antisemitischer Vorurteile seit 1945. Sie entspringen heute weniger traditionell rassistischen Einstellungen als vielmehr fortdauerndem Unwillen, sich immer noch und immer wieder mit dem dunkelsten Abschnitt der eigenen Geschichte konfrontiert zu sehen.« Korn bringt hier das auf den Begriff, was gemeinhin sekundärer Antisemitismus genannt wird, es geht um den »Abwehrreflex auf die als identitätsgefährdend empfundene Konfrontation mit der historischen Schuld«.

Brieglebs Streitschrift sollte man als Explikation dieses Begriffs lesen. Die Gruppe 47, namentlich ihre Köpfe Richter, Andersch, Grass, Walser, Walter Jens oder Joachim Kaiser, ist ihm dabei kein mehr oder weniger willkürliches Objekt. Er sieht die Gruppe vielmehr als für den sekundären Antisemitismus geradezu privilegierten Ort. Sehr früh reorganisierte sich hier das intellektuelle Leben, und von Anfang an organisierte es sich unter Ausschluss der (jüdischen) Emigranten und in Abgrenzung zu den Westalliierten und ihren Ideen von Reeducation. Dabei blieb die Gruppe 47 nicht unter sich, sondern stieg zum wichtigsten westdeutschen Debattierzirkel auf, besetzte im literarischen Betrieb die Schnittstelle zwischen Markt und Kunst und schaffte es eine Zeit lang unwidersprochen zu behaupten, sie repräsentiere die deutsche Literatur.

Was Briegleb minutiös in einer über eine weite Strecke selbstquälerischen Feinanalyse herausarbeitet, lässt sich vielleicht so auf den Punkt bringen: Hans Werner Richter & Co. waren nicht links und antisemitisch; auch nicht antisemitisch, obwohl sie links waren. Vielmehr gingen linke und antisemitische Haltungen eine Symbiose ein. Das Selbstverständnis, links zu sein, also per se für einen demokratischen, selbstbewussten Neuanfang zu stehen, bedingt den Ausschluss der Emigranten und Überlebenden. Was wollt ihr denn von uns, wir machen doch alles richtig?! Oder in den Worten des schon früh mit Literaturpreisen ausgezeichneten Richter, 1950 in der französischen Zeitschrift Combat veröffentlicht: »Nach dem Kriege sind wir auf unsere Emigranten gestoßen, die wir oftmals als amerikanische Offiziere wiederfanden. Sie fragten uns, warum wir nicht das Land verlassen hätten, und nannten uns ebenso verantwortlich wie die anderen. Wir fragten zurück: ›Warum seid ihr ausgewandert? Eine Emigration hat noch niemals eine Diktatur zum Sturz gebracht.‹ Die Kluft zwischen uns und ihnen schien unüberbrückbar. Wenn die heutigen Sieger nach und nach die Idee einer Kollektivschuld fallen lassen, so untersagen sie uns doch noch allzu oft eine Kritik. So sind wir wieder allein und bleiben es.«

Alles an Stereotypen der Abwehr ist hier vereint: die vereinnahmende Rede von »unseren« Emigranten, die uns aber entfremdet sind, denn sie begegnen uns jetzt als amerikanische Offiziere; die Anmaßung, mit knapper Not dem Tod Entronnene zur Rede zu stellen; der Popanz der Kollektivschuldthese; der Trotz; die existenzielle Pose: »So sind wir allein und bleiben es.«

Brieglebs Stärke ist es, das Wirken dieser Mechanismen, wie sie sich exemplarisch in der Gruppe 47 herausgebildet haben, bis zum jüngsten Eklat um Jürgen Möllemann und Martin Walser weiter zu verfolgen. Er schafft es, die ganze Dimension von Möllemanns Kampagne (und Walsers »Tod eines Kritikers«) deutlich zu machen. Das Revival eines primären Antisemitismus, etwa Möllemanns Zitieren offen antisemitischer Klischees – die Juden sind selber schuld –, wird möglich dank der jahrzehntelangen, linksdemokratisch begründeten und schließlich durchgesetzten Ausgrenzung der Opfer.

So wird amtlich, was zu vermuten war: Der Mainstream-Antisemit ist ein selbstbewusster Liberaler, durchaus antifaschistisch und schwer enttäuscht, wenn man seine Gesinnung in Frage stellt.

Klaus Briegleb: Missachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: Wie antisemitisch war die Gruppe 47? Philo Verlag, Berlin 2003, 323 S., 24,90 Euro