Im schwarzen Loch

Im Kosovo zeigt sich, wie instabil der Frieden in der Region noch ist.

So viel Ärger auf einmal hatte der Leiter des Kosovo-Protektorats Michael Steiner selten. Nach der Verhaftung von vier ehemaligen UCK-Kombattanten ließen albanische Demonstranten ihrer Wut auf die UN-Verwaltung und die multinationale Kfor-Truppe freien Lauf. Sie forderten die sofortige Freilassung der mutmaßlichen Kriegsverbrecher, die vergangene Woche zum Kriegsverbrechertribunal nach Den Haag verfrachtet wurden. Doch damit nicht genug. Eine neue pan-albanische Nationalistentruppe rief zum Volksaufstand im Kosovo und in der Region auf. Und auch aus Belgrad drohte Steiner Ungemach. Die Regierung von Zoran Djindjic forderte nicht nur die Rückkehr von serbischen Truppen ins Kosovo, sondern brachte gleichzeitig neue Teilungspläne für die Provinz in Umlauf.

Tatsächlich machen die aktuellen Kosovokonflikte deutlich, dass seit dem Krieg und der Installierung eines UN-Protektorates im Frühsommer 1999 keines der grundsätzlichen Probleme der Krisenprovinz gelöst wurde. Da ist zunächst der Versuch, ein Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen. Zwar kann die Verhaftung des UCK-Quartetts, dem vorgeworfen wird, 1998 albanische und serbische UCK-Gegner gefoltert und ermordet zu haben, als eine Maßnahme gegen die bisher vorherrschende weitgehende Straflosigkeit für solche Verbrechen betrachtet werden. Aber die zentrale Frage lautet, warum dafür fast vier Jahre vergehen mussten. Ein Teil der Antwort ist sicher, dass durch die Thematisierung von UCK-Kriegsverbrechen auch die Rolle des Westens bei der Aufrüstung der Ethnotruppe wieder ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken droht.

Mindestens genauso schwer fällt aber ins Gewicht, dass die UN-Verwaltung Risse in der brüchigen Befriedung fürchtet. Nach der Verhaftung einer Reihe von ehemaligen UCK-Kämpfern im vergangenen Jahr war es zu heftigen Protesten und gewalttätigen Auseinandersetzungen aufgebrachter Albaner mit der UN-Polizei und der Kfor gekommen. Die Stimmung in der Provinz hat sich seither immer stärker gegen die Protektoratsverwaltung gekehrt, die auch für die anhaltende wirtschaftliche Misere und das Ausbleiben der ersehnten staatlichen Unabhängigkeit verantwortlich gemacht wird.

Die UN-Verwaltung stößt mit ihren Verhaftungen nicht nur auf den Widerstand eines großen Teiles der Bevölkerung, die in den UCK-Kämpfern »Freiheitshelden« sieht, wie Redner bei den Demonstrationen deutlich machten. Vielmehr legt sich Steiners Protektoratsverwaltung unweigerlich mit dem mächtigen Geflecht aus ehemaligen UCK-Kadern und der Kosovo-Mafia an. Kriegsheld, Mafiapate und Politiker sind nämlich oft in einer Person vereint.

Dies verdeutlichte der Beginn des Prozesses gegen Rrustem Mustafa alias Remi vergangene Woche. Dem im vergangenen Sommer verhafteten Remi und seinen drei Mitangeklagten, die vor einem UN-Gericht in Pristina stehen, wird ebenfalls Folter und Mord an albanischen und serbischen Zivilisten in der Zeit vor dem Nato-Bombardement vorgeworfen. In letzter Zeit war Remi aber vor allem als Mafiapate gefürchtet, der den illegalen Benzin-, Drogen- und Menschenhandel organisiert und Schutzgelder kassiert haben soll. Gleichzeitig zählte er zu den führenden Kadern der UCK-Nachfolgeorganisation Kosovo Protection Corp, die von der UN-Verwaltung als eine Art Technisches Hilfswerk konzipiert wurde, aber eher den Kern einer künftigen Kosovo-Armee darstellt.

Im Kosovo hat sich seit Beginn der neunziger Jahren ein Geflecht aus Mafiabanden entwickelt, das heute einen erheblichen Teil des europäischen Handels mit illegalen Drogen, Waffen und zur Prostitution gezwungenen Frauen kontrolliert, wie das von der Europäischen Union unterstützte Crime Center in Bukarest feststellt. Akteure dieses profitablen Geschäftes sind oft familien- und klientelgestützte Netzwerke, die aus der UCK hervorgegangen sind und sich heute als eine Form des kriminellen politischen Unternehmertums präsentieren. Kosovo-Warlords wie Remi sind Politiker, die vom Schmuggel profitieren und gleichzeitig von ihrer Gefolgschaft, die nicht selten materiell von ihnen abhängig ist, als Nationalhelden verehrt werden. Die UN-Verwaltung muss also abwägen, was sie mehr fürchtet, das Ausgreifen der Kriminalität oder die Destabilisierung durch die Verhaftung populärer Warlords.

Auch das Tribunal in Den Haag musste eher notgedrungen aktiv werden. Bei den Verhaftungen der vergangenen Woche geht es weniger um die abstrakte Herstellung von Gerechtigkeit, wie die Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch hofft. Vielmehr musste das Tribunal im Kosovo endlich zugreifen, um seine dünne Legitimität nicht selbst zu unterminieren. UCK-Kombattanten haben nicht nur Dutzende albanische Opponenten auf dem Gewissen, sondern sie sind auch für die Vertreibung von 250 000 Roma und Serben im Sommer 1999 verantwortlich. Diese ethnische Säuberung kann von Den Haag auf lange Sicht nur schlecht ignoriert werden, will es ein Mindestmaß an Glaubwürdigkeit behalten. Ein demonstratives Vorgehen gegen einzelne UCK-Kämpfer ist aus Sicht der UN-Verwaltung außerdem notwendig, um gegenüber den Vertriebenen, die heute als unerwünschte Flüchtlinge in der EU oder in Serbien leben, argumentieren zu können, Bedingungen für ihre Rückkehr würden geschaffen. Bisher sind aus berechtigter Angst vor neuen Übergriffen lediglich wenige Tausend zurückgekehrt.

Auch dieser Umstand droht zur Quelle neuer Instabilität zu werden, wirft sie doch das zentrale politische Dilemma der umstrittenen Grenzfragen auf dem Balkan auf. Der serbische Premierminister Djindjic argumentierte im Januar bei einem unerwarteten diplomatischen Vorstoss, es sei an der Zeit, »die Debatte um den endgültigen Status des Kosovo« neu zu eröffnen. Dabei scheint ihm eine Dezentralisierung der Provinzverwaltung vorzuschweben, bei der in eine serbisch dominierte Nordzone neben serbischen Flüchtlingen auch serbische Sicherheitskräfte zurückkehren könnten.

Das wird freilich von albanischen Politikern strikt zurückgewiesen, die zur Zeit dabei sind, die staatliche Unabhängigkeit der Provinz zu betreiben, die noch immer zu dem aus Rest-Jugoslawien hervorgegangenen neuen Staatsprovisorium »Serbien und Montenegro« gehört. Die mit martialischen Erklärungen in Erscheinung getretene Albanische Nationalarmee (AKSh) ruft gleichzeitig zu einer »Frühjahrsoffensive« für die »Vereinigung aller albanischer Siedlungsgebiete« auf. Diese umfassen neben Kosovo und Albanien auch die Grenzgebiete zu Südserbien, Mazedonien, Griechenland und Montenegro.

Michael Steiners Diktum, Statusfragen könnten erst diskutiert werden, wenn im Kosovo Stabilität herrsche, wird so immer mehr die Grundlage entzogen. Es war freilich die »internationale Gemeinschaft«, die Anfang der neunziger Jahre die Ethnizität auf dem Balkan zum Ordnungsprinzip erhob, auch wenn dies vor allem Instabilität geschaffen hat. Der Chef des Balkanstabilitätspaktes Erhard Busek befürchtet denn auch ein »schwarzes Loch«, falls nicht endlich grundlegende Lösungen gefunden würden. Nur weiß niemand, wie das gehen soll.