Als die Worte laufen lernten

Es begann mit Dietmar Schönherrs »Je später der Abend«. Seitdem wird im Fernsehen geredet. Die Talkshow wird 30 Jahre alt. von jan freitag

Gut gegen Böse oder Schwarz gegen Weiß oder Dumm gegen Klug oder Reich gegen Arm oder Alt gegen Neu oder Alice Schwarzer gegen Verona Feldbusch. Mal hocken die Gäste auf raketenförmigen Stühlen, umringt von Feinden, mal sitzen sie auf Kanapees mit Armkontakt, mal lümmeln sie an Stehtischen vor hüpfenden Moderatorinnen oder fläzen in großer Runde mit Bedienung. Die Talkshow, meint Amelie Fried, »funktioniert nach dem Kasperletheaterprinzip – alle Typen müssen vertreten sein«. Warum und für wen, das war am Anfang völlig unklar. »Wir machen heute eine so genannte Talkshow«, sagte Dietmar Schönherr bei der Premiere von »Je später der Abend« am 4. März 1973. »Was sie ist, das wissen Sie nicht und wir auch nicht so genau.«

Aber es gab zum Glück die berühmten Vorbilder aus den USA, und irgendwie wollte man so was ähnliches auch im deutschen Fernsehen probieren. »Broadway Opera House«, »Today«, »The Home Show« und »Merv Griffin Show« hießen dort die Gesprächsrunden der fünfziger Jahre. Und sie waren zunächst fast so zahm wie Dietmar Schönherrs Plagiat auf West drei. Keine Spur von Streit, nur Privates aus dem Leben von Schauspielern, Buchautoren und Leuten, die was erlebt hatten. Das ist langweilig, befanden aber die Zuschauer nach nur zwölf Folgen und der WDR ersetzte den Moderator. Auch in Neubesetzung zu bieder, befand vier Jahre später die ARD und beendete die ins Erste gerückte Sendung.

Da aber hatten sich die Zuschauer bereits an die Talkshow gewöhnt, schalteten immer öfter ein, sodass sich das Format immer mehr Sendeplätze eroberte. »NDR-Talkshow« und »III nach neun« waren erste Publikumsmagneten des Genres, Alfred Biolek avancierte ab 1976 zum Startalker, mit »Bürger fragen – Politiker antworten« hatte das ZDF die Privatsphäre der Karl Schillers oder Romy Schneiders verlassen, 1981 mischte das ZDF in der Live-Diskussion »5 nach zehn« erfolgreich Banales mit Relevantem. 1989, mit dem RTL-Schocker »Der heiße Stuhl«, landete die Talkshow schließlich dort, wo sie sich noch heute befindet: im telegenen Orbit des anything goes. Kein Thema, das nicht diskussionswürdig wäre, keine Skurrilität, die nicht ein Forum erhielte, kein noch so großer Depp, der nicht dank seines gepiercten Genitals, irgendeiner sonderbaren Sammelleidenschaft oder grenzenloser Faulheit im Fernsehen landen könnte.

Dass die Talkshow Konventionen zumindest angreifen sollte, stand von Beginn an fest. Ebenso klar war aber auch, dass dies im Rahmen der guten Sitten zu geschehen hatte. Weil sich mit nichts so schnell und so gut provozieren ließ wie mit Sexthemen, wurden immer mehr erotische Dinge besprochen. Völlig unvergesslich, wie Nina Hagen in ihren obligatorischen Leggings plötzlich demonstrierte, was man unter klitoraler Stimulation zu verstehen hat. Aber auch mit politischen Statements konnte man kurzfristig berühmt werden und schließlich mit allem und jedem. Wenn Inge Meysel über ihr erstes Mal erzählte oder Beate Uhse Präser-Wasch-Stationen vorführte, gab es in den aufmüpfigen Siebzigern lediglich aus Bayern Proteste. Aber das Unerwartete und immer auch leicht Peinliche gehört seit Anbeginn des Laberfernsehens dazu.

Die nicht mehr ganz so verklemmte Gesellschaft wollte ein enthemmteres Fernsehen mit sexy Gästen. Es begann vergleichsweise seriös, z.B. wenn die Ex-Kommunardin Uschi Obermayer ihre Model-Karriere rechtfertigen musste und mit leichter Häme des Establishments kämpfte, ging dann über in offenen Voyeurismus, als sich Pornostars die Klinken der Studios in die Hand drückten. Stets zählte vor allem der hübsch verpackte Thrill, aber so wie in der US-amerikanischen »Morton J. Downsey Show«, wo sich schon mal schwarze Bürgerrechtler mit Neonazis in SS-Tracht prügeln, scheppert es im deutschen Fernsehen nie.

Aber doch ein wenig. Legendär sind hierzulande die Szenen mit der Abtreibungsgegnerin Karin Struck, die ihren spektakulären Abgang aus der NDR-Talkshow mit fliegenden Gläsern garnierte, die aggressive Demontage Jörg Schönbohms durch den Konflikt-Talker Michel Friedman oder die provozierte Ausblendung von Margarethe Schreinemakers. Ansonsten geht es darum, billig Sendezeit zu füllen. Im Boom-Jahr 1996 gab es 60 verschiedene Formate. Doch damit war der Markt ausgereizt, und das große Talkshowsterben setzte ein. Arabella Kiesbauer mit 2 000 oder Hans Meiser mit 1 700 Sendungen sind Ausnahmen, Knallchargen wie der unsäglich fröhliche Ricky, nach dessen Auftritten man sich auf Beerdigungen wünscht, verschwanden dagegen schnell wieder aus dem Programm.

Zurück bleibt nach derlei Reinigungsprozessen via Einschaltquote etwas, das allgemein viel zu wenig geschätzt wird: eine immense Vielfalt, Sendungen für alle Bildungsgrade. Das so genannnte Confrontainment findet dummdreist in den vielen Daily-Talks oder versiert bei Friedman statt, im Late-Night-Sektor existiert der Klamauk eines Götz Alsmann, familiär geht es zu bei Biolek und investigativ bei Sandra Maischberger. Die klassische Talkrunde gibt es als Promikreis in »III nach neun« oder in der »NDR-Talkshow«, als Dauerwahlkampfsendung bei Sabine Christiansen, als Flieges Bekenntnisevent, im »Doppelpass« auf DSF oder in den vielen regionalen Gesprächskreisen in den Dritten.

Wie ernst die Talkshow gerade als Multiplikator zu nehmen ist, beweist ein simpler Fakt der Fernsehgeschichte: Aus Angst vor öffentlicher Systemkritik gab es in der DDR bis 1989 keine Live-Talkshow. Erst Wochen vor der Maueröffnung startete das Jugendfernsehen elf99 mit »sams-Talk« einen ersten Versuch, der in den folgenden Monaten zahlreiche Nachahmer fand. »Damals herrschte im Fernsehen die blanke Anarchie«, erinnert sich der erste DDR-Talkmaster Hellmuth Henneberg an die letzten Tage der Ost-Sender. Bereits Mitte 1990 gab es ein knappes Dutzend Formate.

Dabei ist völlig ungeklärt, wann Talkshow beginnt, wann in einer Show das Gespräch wichtiger ist als das Drumherum. Bei »Wetten dass« wird getalkt, im aktuellen Sportstudio, selbst in den Tagesthemen. Dennoch würde kein Mensch dies alles als Talkshow umschreiben. Waren Werner Höfers »Internationaler Frühschoppen« oder Margret Dünsers »VIP-Schaukel« nicht schon Talkshows der frühen Jahre? Was ist mit der »Aktuellen Schaubude«? Sie galten nicht als Talk, weil noch kein Name gefunden war, kein Etikett. Erst als uns Dietmar Schönherr das Wort »Talkshow« beibrachte und es uns schüchtern mit »Rederei« übersetzte, begann das Talkshow-Zeitalter in Deutschland. Und seitdem wird geredet.