Runter vom Markt!

Selbstständigkeit ist die schlimmste Form kapitalistischer Abhängigkeit. von christoph villinger

Arbeiten ohne Chef und Vorschriften – so lautet die Verheißung der neuen Existenzgründer. Sie träumen davon, endlich ihr eigener Herr beziehungsweise ihre eigene Frau zu sein, über ihre Zeit frei verfügen zu können, sich selbst zu verwirklichen und dazu noch gut zu leben. Vielleicht hat man ja die richtige Idee gehabt und verdient demnächst ganz viel Geld. Sonne, Strand und Meer winken schon.

Doch die Realität der neuen und alten Selbstständigen sieht meistens anders aus. Eine 60-Stunden-Woche ist normal, man ist nahezu rund um die Uhr beschäftigt und Urlaub wird zum Fremdwort. Tagsüber den kleinen Gemüseladen oder das Stehcafé offen halten und abends über der Buchhaltung sitzen. Die Abgrenzung zwischen Arbeit und Freizeit ist schwierig, denn für die eigene Sache muss man allzeit bereit sein. Solange der Laden nicht brummt, wird jede menschliche Beziehung auch auf wirtschaftliche Verwertbarkeit abgescannt.

Sicher gab es in den letzten Jahren besonders im Medienbereich Nischen, in denen es möglich war, halbwegs lukrativ zu arbeiten und selbstbestimmt seine Zeit einteilen zu können. Doch auch für die selbstständige Cutterin sind die Zeiten vorbei, als sie ihren Kunden die Termine diktieren konnte. Wenn jetzt abends der Anruf kommt, steht sie am nächsten Morgen voll flexibel auf der Matte. Einen Auftrag ablehnen geht nicht, weil man sonst beim nächsten Mal erst gar nicht mehr angerufen wird. Zu viele andere CutterInnen konkurrieren um den gleichen Auftrag. Und das Risiko, nicht nur keine Brötchen zu haben, sondern auch auf den Schulden für die eigene Schnittanlage sitzen zu bleiben, ist einfach zu groß.

Eine wirtschaftliche Selbstständigkeit im Kapitalismus mit Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung zu verwechseln, ist ein großer Irrtum. Statt eines Chefs diktiert der Markt mit seinen abstrakten Gesetzen die Bedingungen. Nicht nur die Zinsen wollen getilgt, die Kredite zurückgezahlt sein, Geld kommt überhaupt nur rein, wenn der Laden möglichst lange offen ist. Die Druckmaschine rechnet sich nur bei einer entsprechenden Auslastung, und so macht man die eine oder andere Nacht durch – ganz selbstbestimmt.

Warum strahlt dann aber die Idee der wirtschaftlichen Selbstständigkeit auf so viele Menschen, auch aus dem linken Spektrum, eine große Attraktivität aus? Weil sie die neoliberale Antwort auf den gleichen Gegner, die formierte und in sich erstarrte fordistische Gesellschaft, ist. Alles, nur keinen »nine-to-five-Job« in einem Büro der Staatsbürokratie oder in einer Automontagefabrik. Deshalb verwundert es nicht, dass sich die meisten besser fühlen, wenn sie in ihrer kleinen Klitsche die kapitalistischen Zwänge nur abstrakt erfahren und keine konkrete Person die Peitsche schwingt.

So entsteht ein Grenzbereich, in dem sich auf wirtschaftlichem Gebiet die Vorstellungen der alternativen und autonomen Szene mit den Vorschlägen der Neoliberalen überschneiden. Auf beiden Seiten werden die an sich bürgerlichen Ideen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung hochgehalten, nur ganz anders interpretiert und unterschiedlich in die materiellen Umstände eingebettet. Es ist kein Wunder, dass sich gerade innerhalb der Grünen eine neoliberale Fraktion herausgebildet hat oder dass es in Russland eine anarchokapitalistische Partei gibt.

Doch als progressiv denkender Mensch sollte man von etwas anderem träumen als von der eigenen Klitsche. Noch immer gilt es, die Frage nach der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu stellen. Und zu betonen, dass sich »am Markt« keine soziale Gerechtigkeit herstellt, sondern sich nur die Stärksten durchsetzen.

Auch wenn Genossenschaften und Kollektivbetriebe den gleichen Mechanismen des Marktes unterworfen sind, stellen sie immerhin ansatzweise eine kollektive Antwort jenseits der Ich-AG auf die Frage des eigenen wirtschaftlichen Überlebens im Kapitalismus dar. Dieser möchte alle am liebsten allein und frei auf dem Markt gegeneinander antreten lassen. Damit am Ende vor allem einer gewinnt: der Kapitalismus.