Angriff der jungen Avantgarde

Die Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosen waren schon dran, die Gewerkschaften sind in ihre Schranken gewiesen. Bei Oma und Opa ist noch was zu holen. Generationengerechtigkeit ist das Stichwort. von stefan wirner

Der Wettkampf um die Auszeichnung des Unworts des Jahres ist wieder offen. Schien es lange Zeit, als liege der Begriff der Eigenverantwortung, mit dem die Attacke Gerhard Schröders auf den Sozialstaat euphemistisch bemäntelt werden sollte, uneinholbar an der Spitze, so ist es jetzt wieder spannend geworden. Denn die Phrase von der Generationengerechtigkeit ist im Kommen.

»Wenn wir bei der Rente so weitermachen wie bisher, werden wir in zwanzig Jahren ein immenses soziales Problem kriegen«, sagt Anna Lührmann von den Grünen im Gespräch mit der Jungle World. »Wir wollen, dass die Älteren sich auch beteiligen.« Lührmann gehört zu einer Gruppe von 25 jungen Bundestagsabgeordneten aller Parteien außer der SPD und der PDS, die unter dem Titel »Deutschland 2020 – für mehr Gerechtigkeit«, der an den Horror der Agenda 2010 gemahnt, ein Memorandum veröffentlichten.

»Innerhalb der Sozialsysteme findet ein massiver Transfer von den Aktiven hin zu den nicht oder nicht mehr Erwerbstätigen statt«, heißt es darin. Die Rede ist von einer »impliziten Staatsverschuldung«, die aus den »Ansprüchen der älteren Generation an die jüngere im Rahmen der umlagefinanzierten sozialen Sicherungssysteme« entstehe. Dadurch werde die Generation im erwerbsfähigen Alter an der »Teilhabe am Arbeitsmarkt« gehindert.

Die Schlussfolgerung lautet: »Die Sozialpolitik darf sich deshalb nicht vorrangig an den Wünschen der Bezieher von Sozialleistungen orientieren, sondern muss zunächst die Frage beantworten, welcher Umfang an Sozialleistungen finanzierbar ist.« Die Verfasser, die sich nicht mehr an den Wünschen der Bezieher von Sozialleistungen orientieren wollen, wo immer in der Welt dies auch jemals geschehen sein soll, warnen vor den »hinterlassenen Lasten anderer, vorangehender Generationen«; jene »überforderten« die gegenwärtig aktive Generation, deren Potenziale »blockiert« würden.

Den Anfang dieser schwungvollen Debatte machten Anfang Juni der Konstanzer Professor Friedrich Breyer und der katholische Theologe Joachim Wiemeyer, als sie in dem Fernsehmagazin »Report« zynisch die Einschränkung medizinischer Leistungen für ältere Menschen forderten. Die Empörung war groß, doch die Diskussion war eröffnet. (Jungle World, 25/03)

Der Vorsitzende der Jungen Union, Philipp Mißfelder, legte zwei Monate später nach. Er erhob die Forderung, Senioren ab 85 Jahren keine künstliche Hüfte mehr zu finanzieren, um Kosten im Gesundheitswesen zu sparen. Nun waren die Reaktionen schon vielfältiger. Es gab harte Kritik, etwa vom bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (CSU), der sich im Wahlkampf befindet und wohl an seine älteren Wähler dachte. »Das ist unter aller Sau«, sagte Stoiber. Die schärfste Kritik kam vom Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Karl Hermann Haack. Er sprach von einer »schleichenden Euthanasiedebatte«.

Doch es gab auch Zustimmung, etwa vom ehemaligen sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf (CDU) oder vom Vorsitzenden der Ärztevereinigung Marburger Bund, Frank Ulrich Montgomery. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, distanzierte sich zwar von Mißfelders »menschenverachtenden« Einzelbeispielen, nutzte die Gelegenheit aber, um darauf hinzuweisen: »Richtig ist, dass die ältere Generation an der Lösung der heutigen Probleme beteiligt werden muss.«

Katherina Reiche, die CDU-Politikerin, die einmal für das Amt der Familienministerin vorgesehen war, betonte: »Wir sitzen auf einer demographischen Zeitbombe.« Der Generationenvertrag sei am Ende angekommen. Schließlich setzte sich Schröder an die Spitze der Bewegung, indem er dem Sender N24 sagte: »Die Zeiten fröhlichen Verteilens sind vorbei.« Auch die älteren Menschen müssten ihre Ansprüche zurücknehmen.

Der Hintergrund der Diskussion ist ein reales Problem. In Deutschland müssen wie in den meisten westlichen Industrieländern immer weniger Erwerbstätige die Renten für die ältere Generation aufbringen. Zum einen liegt dies daran, dass die Zahl der Geburten in der Europäischen Union nur noch ein bis zwei Kinder pro Frau beträgt (in Deutschland 1,34, in Frankreich mit der höchsten Rate 1,89). Zudem ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland seit Jahrzehnten extrem hoch. (Siehe Seite 7)

Dieses Problem kapitalistischer Vergesellschaftung soll nun vor allem durch Sparmaßnahmen bei den Rentnern gelöst werden. Generationengerechtigkeit heißt nichts anderes als Rentenkürzungen. Immer offener wird darauf hingewiesen, dass die Alten den Jungen zur Last fielen, dass sie unproduktiv seien und zu lange lebten. Die Gesellschaft sei »überaltert«.

Die Verfasser des Memorandums fordern eine »Generationengerechtigkeitsprüfung« bei allen politischen Entscheidungen. Dies sei »eine gute Idee«, meinte die noch sehr aktive und erwerbsfähige Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (59, SPD) im Focus. Die anderen Vorschläge der jungen Avantgarde sind noch deutlicher. Auf der Liste stehen eine »verlangsamte Rentenanpassung«, eine »neue Rentenformel«, selbstverständlich eine »Stärkung der Eigenverantwortung der Bürger«, und am Ende heißt es im Stile Mißfelders: »Wir müssen Wirtschaftlichkeitsreserven mobilisieren, Strukturprobleme lösen und Gesundheitskosten im Alter mildern.«

Der Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen, Daniel Bahr, der zu den Unterzeichnern des Memorandums gehört, sagt der Jungle World auf die Frage, ob der Konflikt nicht eher zwischen wohlhabenden und weniger wohlhabenden Menschen innerhalb einer Generation bestehe statt zwischen Jung und Alt: »Natürlich gibt es Gerechtigkeitsprobleme zwischen Reich und Arm. Aber ich will die Gerechtigkeitslücken nicht gegeneinander ausspielen. Ich meine einen erweiterten Gerechtigkeitsbegriff. Es geht nicht, auf Kosten anderer zu leben oder Wohlstand über Schulden zu finanzieren.«

Julia Klöckner, die stellvertretende Vorsitzende der so genannten Jungen Gruppe, der die Bundestagsabgeordneten der Union unter 35 Jahren angehören, sagt über die in Berlin geplante Rentnerdemonstration im Oktober: »Natürlich kann jeder seine Meinung äußern. Aber es gibt auch militante Rentner, die Bezüge en masse haben, von da und dort, und hier haben sie ein Häuschen. Für die junge Generation heute ist es viel schwieriger, so etwas zu erwerben.«

Fast schon moderat klingt da Sabine Bätzing, die Sprecherin der so genannten Youngsters der SPD-Bundestagsfraktion. Sie erklärt, warum keine SPD-Politiker zu den Unterzeichnern des Memorandums gehörten: »Es wurde uns einfach vorgelegt und wir hätten es unterschreiben sollen. Es war uns außerdem zu weich gespült, wir gehen demnächst selbst an das Thema, mit mehr Inhalt.« Den Begriff »Generationengerechtigkeit« finde sie »schwierig«, sie wolle einen »Ausgleich zwischen den Generationen«. Damit meint allerdings auch sie nichts anderes als einen Verzicht der Alten.

Der einst so gepriesene Generationenvertrag und die wirkliche Situation der Rentner in diesem Land spielen für die meisten dieser jungen Karrierepolitiker keine Rolle. Sie akzeptieren, dass sich der Kapitalismus in Zeiten der Krise aller Faktoren entledigt, die unproduktiv sind. Sie wissen, wie man mit Begriffen Politik macht und wie man mit unsozialen Ideen Aufsehen erregt. Mißfelder räumte das ein. Er habe bewusst ein »provokantes Beispiel« gewählt, um »das Thema Generationengerechtigkeit zu transportieren«. Auf das nächste »provokante Beispiel« darf man schon gespannt sein. Theodor W. Adorno schrieb in »Minima Moralia«: In der »antagonistischen Gesellschaft ist auch das Generationsverhältnis eines von Konkurrenz, hinter der die nackte Gewalt steht«.