Test den Protest

Im mexikanischen Cancún trafen höchst unterschiedliche Globalisierungskritiker aufeinander. Ein Kampfbericht von lennart laberenz

Wir sehen es doch selbst an unserer Stadt«, sagt Andrés, der Taxifahrer, »hier ist alles irgendwie künstlich und seelenlos. Hier wird alles zur Dienstleistung.« Das Touristenzentrum Cancún, im September 2003 zum zweiten Mal Treffpunkt der Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation WTO, ist ein eigentümliches Sinnbild für die negativen Folgen der Globalisierung. Hinter einer großen Lagune schillert das karibische Meer türkisfarben unter Palmen, aber die Strände sind nicht für jeden zu erreichen, sie sind teilweise privatisiert und gehören zu protzigen Hotelkästen.

Cancún ist ein durchgeplantes Touristenzentrum. Bis Mitte der sechziger Jahre war der Küstenort allenfalls einigen Fischern bekannt. Die zum Ferienparadies gehörende Stadt liegt etwa eine halbe Stunde von den Hotelanlagen entfernt und besteht aus schnell hochgezogenen Betonkästen, Wohnblocks und Einkaufspromenaden. An jeder Ecke wartet eine Kneipe oder ein Souvenirladen auf touristische Kundschaft.

Der Bundesstaat Quintana Roo hat laut dem Nationalen Institut für Statistik (Inegi) eine der höchsten Migrationsquoten in Mexiko, die mit Abstand höchste Wochenarbeitszeit (48,8 Stunden) und eine unterdurchschnittliche Lohnentwicklung, die insbesondere zu Lasten von Frauen in Dienstleistungsberufen geht. Die offizielle Arbeitslosenquote beträgt allerdings gerade einmal ein Prozent. Das liegt daran, dass es kaum einen vernünftigen Grund gibt, sich arbeitslos zu melden, sondern vielmehr einen gesteigerten Druck zur Selbstausbeutung. Wer nach Cancún kommt, betritt die Dienstleistungsfabrik des Landes, hier arbeiten nur 8,2 Prozent der Beschäftigten weniger als 35 Stunden pro Woche, das ist ein Drittel des Landesdurchschnitts.

Das Paradies unter Palmen entpuppt sich also bei näherem Hinsehen als Oase der Ausbeutung, schließlich, so resümiert Taxifahrer Andrés, »gilt hier nichts, alle Gesetze zum Schutz der Beschäftigten im Tourismusgewerbe werden nach Belieben gebrochen. Es gibt keinen Kündigungsschutz und keine soziale Absicherung.«

Genau deshalb scheint Cancún als Kulisse für den Widerstand gegen die weltweite Durchsetzung turbokapitalistischer Verhältnisse nicht eben ungünstig zu sein. Und während in den Hotelburgen die Minister und die Globalisierungslobby tagten, trafen sich vor den Sicherheitsabsperrungen diejenigen, deren Lebensgrundlage scheinbar zur Verhandlungssache erklärt worden war. Zuvor hatten vor allem Bauern und indigene Verbände zu Protesten aufgerufen. Die vielen in Bussen angereisten Chiapanecos und die etwa 200 angereisten Südkoreaner sorgten dafür, dass die existenziellen Nöte der ländlichen Bevölkerung in den Aktionen sichtbar wurden. Anders als während Gipfel-Protesten in Europa, wo sich vor allem junge und gebildete Globalisierungsgegner aus den Wohlstandsländern artikulierten, forderte in Cancún eine Gruppe von Leuten ihr Recht, deren Existenz ganz unmittelbar bedroht scheint. So blieben denn auch die Barrieren zwischen den Indígenas und Bauern auf der einen Seite und den jungen, akademischen Globalisierungskritikern auf der anderen Seite durchgängig sichtbar. Die so unterschiedlichen Widerstandsgruppen, die ihre Forderungen mal in Spanisch, mal in Englisch und mal auf Koreanisch vortrugen, konnten sich auf kein gemeinsames Anliegen einigen. Die Toleranz insbesondere der mexikanischen Kleinbauern, die immer wieder »Landwirtschaft raus aus den WTO-Verhandlungen« riefen, gegenüber anderen Interessen und Protestformen erwies sich als äußerst begrenzt.

»Die wollen, dass alle so leben und sterben wie sie. Die wollen in Ruhe gelassen werden und denken nicht weiter«, stöhnt Angélia González Bravo. Sie ist 22 Jahre alt und hat erkennbar nichts mit der ländlichen Bevölkerung gemein. Sie studiert im sechsten Semester an der nationalen Universität für Anthropologie in Mexiko-Stadt und hat wie viele andere per Bus die fast 2 000 Kilometer an den Karibikstrand zurückgelegt. Sie vermummte sich während der Demonstrationen und sprühte auch mal einen Spruch an eine Hauswand. Außerdem hat sie mitgeholfen, als eine Gruppe von Frauen den Sicherheitszaun einriss, und sie wäre auch bei der Straßenbesetzung in der Hotelzone dabei gewesen, wenn sie nicht von der Polizei vorher abgefangen worden wäre. Zu dem Zeitpunkt, als es für Leute wie Angélia richtig losging, waren die meisten mexikanischen Kleinbauern schon wieder abgereist.

Mit ihren GenossInnen ist Angélia an manchen Tagen in Kleingruppen durch die Stadt gezogen und hat Flugblätter verteilt. So wollten sie das Funktionieren der WTO erklären und die politische Motivation ihrer Proteste obendrein. Den Kontakt zur Bevölkerung herzustellen, Informationen zu verteilen und Netzwerke zu knüpfen, all dies versuchten die studentischen Gruppen und internationalen Nichtregierungsorganisationen zu bewerkstelligen. Dabei stellte Angélia durchaus die Möglichkeit einer Politisierung fest, »insbesondere in den ärmeren Vororten haben wir starke Unterstützung bekommen und wohl auch diejenigen Leute getroffen, die am wenigsten informiert waren«. Außerdem war der Betrieb von kostenlosen Volksküchen der US-amerikanischen Organisation Food not Bombs in leerstehenden Restaurants oder auf den Plätzen der Stadt immer auch ein Akt der feierlichen Besetzung des öffentlichen Raums in einer Stadt, in der es nur um den Profit geht. Schnell bildeten sich Gruppen um die vermummten Gestalten, die auf traditionellen Instrumenten Lieder aus Nordmexiko sangen. Theatergruppen zogen durch die Straßen, McDonald’s wurde symbolisch blockiert, was mittlerweile zum Standardrepertoire globalisierungskritischer Aktionen gehört. Die Studentin Daniela Macias ist dennoch begeistert. »Ich wohne hier nun seit eineinhalb Jahren«, grinst Daniela, die für ihr Design-Studium nach Cancún gekommen ist, »und es ist wirklich das erste Mal, dass ich diese Stadt hier lebendig finde«.

Insgesamt boten die Studierenden allerdings ein eher klägliches Bild. Die verschiedenen Gruppen hatten sich nach der Ankunft rasch in zwei auch räumlich getrennte Lager geteilt. Eine Minderheit bevorzugte einen Platz in der Mitte der Stadt mit katastrophalen hygienischen Verhältnissen. Hier trafen sich vor allem Punks, Anarchisten und Angehörige des schwarzen Blocks. Kaum zehn Taximinuten davon entfernt campierte die Mehrheit in einem Baseball-Stadion. Als in der Nähe des innerstädtischen Lagers während einer abendlichen Demonstration die Scheiben einer Pizza-Hut-Filiale zu Bruch gingen, wollte eine aufgebrachte Menge lieber ihre KommilitonInnen aus dem Stadion verprügeln, als Sicherheitsvorkehrungen gegen die heranrückende Polizei zu erwägen.

Die Gruppen unterschieden sich dann auch in ihren politischen Überzeugungen und in der Wahl der Waffen: »Ich denke wir haben hier ein unterschiedliches Verständnis von Demokratie festgestellt. Im Stadion campierten Gruppen, die pazifistisch protestieren wollten, die an Versammlungen und Konsens glauben, aber in ihrem Denken nicht minder radikal sind. In der Stadt blieben die, die direkte Aktionen vorhatten und eigentlich alles so machen wollten, wie sie gerade Lust hatten«, beurteilt der 22jährige Ivan Galinde Ortegón die Situation. Er studiert Politische Wissenschaften an der Universidad Autonoma de México und hatte auch nichts dagegen, zwischendurch mit Freunden zum Strand zu fahren. Überhaupt war der Strand gut besucht. »Nun ja, manche sind auch hier, weil man so mal günstig nach Cancún kommen konnte«, sagt die Physikstudentin Verónica López Delgado.

Die Zerstrittenheit unter den Studierenden resultiert aus den Auseinandersetzungen und Anfeindungen während des letzten Streiks an der Universidad Autonoma de México. Wiewohl sich die politischen Analysen nur in Nuancen unterscheiden, scheinen die Gräben unüberwindlich. Im Parque de las Palapas in der Mitte der Stadt richteten sich Protestierende ein, die sich mit ihrem Angriff auf die bürgerliche Gesellschaft von der traditionellen Machtanalyse ihrer Kommilitonen abgewandt haben. »Wir haben sicherlich mehr Verbindungen zu herrschenden Machtstrukturen und lehnen sie nicht einfach ab«, erklärt Ivan den Gegensatz.

Insgesamt gab es während der letzten zwei Monate in Mexiko-Stadt etliche Treffen zur Diskussion über den Umgang mit Gewalt und die Vorbereitung von gruppenübergreifenden Aktionen. Die Diskussionen drehten sich im Kreis, und der Tiefgang ähnelte eher dem in der Lagune von Cancún.

Dass die WTO alles richtig und die Protestler alles falsch machen würden, hatte die Bevölkerung zuvor in der Presse lesen können. Die Vorbehalte der durch sensationslüsterne Presseberichterstattung verunsicherten Bevölkerung konnten dann auch nur zum Teil beseitigt werden. Teile der Bevölkerung halten die Politik der WTO nach wie vor für richtig. »Ich glaube, die WTO ist wichtig für Mexiko«, meint die 33 Jahre alte Elizabeth Angiano. Sie hat lange im Tourismussektor gearbeitet und fürchtet um den Ruf der Stadt. »Außerdem können wir uns nicht frei bewegen, und ich habe Angst vor Ausschreitungen.«

Zahlenmäßig waren in der zweiten Hälfte der Woche vor allem Studierende und Leute aus internationalen NGO anwesend. Viele der mexikanischen Gewerkschaften waren nur mit kleinen Kontingenten angetreten oder hatten sich rasch zurückgezogen. Hinter den Kulissen hatten längst die straff organisierten südkoreanischen Bauern die Führung übernommen – nach dem öffentlichen Selbstmord des ehemaligen Spitzenfunktionärs Lee Kyung Hae war ihnen eine Autorität zugefallen, die sie gezielt nutzten. Ob sich die mexikanischen Bauern so früh aus Cancún verabschiedeten, weil sie zurück auf ihre Felder mussten, oder ob sie sich von den Kämpfern aus Südkorea verschreckt fühlten, ist ungewiss. Allerdings hatten schon am Abend der Trauerfeier für Lee Kyung Hae Funktionäre der mexikanischen Gewerkschaft der Elektriker und der traditionskommunistischen Arbeitspartei die »unilateralen Aktionen« kritisiert und rasch erkannt, dass ihre eigenen Interessen und Aktionen in den Hintergrund gerieten.

Tatsächlich gelang es den Delegationen aus Südkorea in einer aufsehenerregenden Aktion am letzten Demonstrationstag, gemeinsam mit einem internationalen Kontingent von Frauen den Sicherheitszaun niederzureißen und den sonst unkontrollierbaren anarchistischen schwarzen Block zum Ordner für Ruhe und Sicherheit zu machen. »Wir sehen«, so hatte Sohn Nark Hoo, einer der Sprecher der Gruppe, auf einer Pressekonferenz in aller Selbstverständlichkeit erklärt, »dass es unterschiedliche kulturelle Traditionen der hier versammelten Organisationen gibt. Als wir sagten, dass wir radikale Aktionen durchführen würden, waren wir uns darüber im Klaren, dass diese Aktionen Verhaftungen und Verletzte zur Konsequenz haben würden.« Insbesondere die Art und Weise, in der die Südkoreaner ihre Aktionen durchführten, ließ den lateinamerikanischen Heißspornen den Mund offen stehen: In artig gebügelten Hemden und sauberen Hosen agierten die Südkoreaner und ließen sich durch nichts von ihrer Vorstellung des radikalen Protests abbringen, dabei kalkulierten sie genau: Das Werfen von Steinen und die unkontrollierte Konfrontation mit der hoch gerüsteten Polizei wären ein Sicherheitsrisiko für die unorganisierte und kaum vorbereitete Masse der Demonstrierenden gewesen. Als der Sicherheitszaun nach stundenlanger, gleichmäßiger Arbeit durchlöchert und von starken Seilen zerrissen war, hielten sie inne und versammelten die etwa zweitausend Demonstrierenden zu einem stillen Ritus. Zum Abkühlen der Emotionen war plötzlich Hinsetzen und Blumenverteilen angesagt. Die offizielle Sprache, so beurteilte die linksliberale Zeitung La Jornada das Geschehen, war Koreanisch.

»Das ist historisch, so etwas hat es noch nicht gegeben«, zeigt sich einer der Radikaleren gerührt, »erst dürfen nur Frauen den Zaun platt machen, und dann gipfelt alles in einer Metapher: Wenn es uns gelingt, die Barrieren zwischen diesen beiden Welten zu zerstören, ohne dass es zu den üblichen Ausschreitungen kommt, dann beweisen wir eine andere Art von Stärke, die tiefer dringt.« Der junge Mann, der seinen Namen unter keinen Umständen preisgeben will, schaut lange nachdenklich unter seiner Gasmaske hervor. »Dies ist ein ungemein spiritueller Akt.«