Sleeper Cell

Meldung 3 255, Hauptquartier

Ein Klang: Wer ist K9? Ein Doppelgänger? Wir hatten ihn vor Jahren in der Münchner Zentrale kennengelernt, und er ist uns als lustig selbstverliebt aufgefallen. Er konnte mit fanatischer Akribie gewisse Phänomene des Alltags in Sprache und Theorie fixieren. Jedenfalls sieht der echte K9 aus Deutschland genau so aus wie jener K9, der uns jetzt in Wonder Valley mit einem Besuch überrascht. Menschlich gilt K9 als leidenschaftslos. Er hat sich in der Zentrale geduldig nach oben gearbeitet. Jetzt hat er die Macht, uns alles zu nehmen. Zwei Minuten tiefes Schweigen, der einzige Klang der innere Klang.

K9 behauptet, wir würden unter Beobachtung stehen, Zielfahndung durch die Militärs. Den Anschlag hat er bereits storniert. Dabei wollte ich ihm gerade erklären, dass wir die Zündvorrichtung längst angebracht hätten. K9 will uns beruhigen. Er erzählt von seinem geliebten 1. FC Nürnberg, eine gefakte Leidenschaft, die Bodenhaftung beweisen soll.

Hannah schlägt einen Test vor. K9 muss mit Menschenmüll konfrontiert werden, mit einem Stoff aus Vulgarität, Perversion und Brutalität. Wenn K9 wirklich K9 sein soll, dann kann er den bedingungslosen moralischen Anspruch unserer Operation nicht überleben. Er wird kapitulieren, da werden ihm auch seine Analysen nicht weiterhelfen.

Ich erinnere mich, Herbst 1991, wie uns die Bahnpolizei nach einem Borussia-Spiel in Dortmund grundlos zusammengeschlagen hat. K9 war gerade mal zwanzig. Mit Rauschgift haben wir nie was zu tun gehabt, aber genau das haben sie uns vorgeworfen. K9 hat geweint, und Daddy holte ihn noch am gleichen Tag aus dem dem Knast ab. Seine Anwälte haben mir damals die Schuld angehängt.

Hannah hat entschieden. Testen! Wir fahren mit K9 zum Blue Cross Trailerpark in 29 Palms, Block 13 B. Wir wollen K9 unseren Informanten MD vorstellen, Marine-Infanterist beim 6. Regiment. Vor Block 13 B steht ein grauer Wohnwagen. Junge Mütter hängen Militärunterwäsche auf. Fünf Minuten Kontrolle. Nichts Verdächtiges. Auch keine Spur von MD.

Eine Gruppe von fünf- bis sechsjährigen Kindern schlägt sich auf der Staubpiste um einen Basketball, und als der Besitzer des Balles nach seinem Ball schreit, schmeißen ihm ältere Kinder den Ball an den Kopf und schlagen ihm die Nase blutig, und einer seiner Freunde schreit den fliehenden Kindern »schwarze Schweine« nach. Die Mütter rühren sich nicht.

Dann kommen die jüngeren Kinder zurück und sagen zu einem großen Jungen, er selbst sei ja schwärzer als Scheiße.

K9 fragt, ob wir vielleicht die Musik lauter stellen können. Irgendwas von Burt Bacharach läuft auf KZBC. K9 wirkt nervös.

Eines der jüngeren Kinder schreit jetzt zurück, seine Mutter lasse sich für Geld von Chillifressern ficken. Der ältere Junge zieht eine Nagelfeile heraus und reißt dem Jungen damit die Wange auf, rennt davon und vereint sich in der entferntesten Ecke des Trailerparks mit Kindern, die eng und friedlich beisammensitzen. Sie haben sich gegenseitig freundschaftlich die Arme um die Schultern gelegt, sie lachen und kiffen heimlich.

K9 rührt sich nicht mehr. Er ist ein bisschen bleich, weil er wohl gerade realisiert, dass unsere Vermutungen der letzten Monate, die in München grundsätzlich als Übertreibungen deklariert wurden, einen hohen Grad von Plausibilität haben. K9 ist tatsächlich K9. Wir warten. Wir reden noch ein bisschen: von zu viel Schmerz, der dumm macht. Und vom Glück, ein glücklicher Mensch zu sein.

»Sleeper Cell« erscheint als anonymer Kolumnenroman.