Ein blutiger Tag

Eine polnische Historikerkommission untersucht die Ereignisse am so genannten Blutsonntag im September 1939. Der Bund der Vertriebenen will in der Debatte mitmischen. von jörg kronauer

Willkommen, Witamy, Welcome!« Martin Sprungala ist ein weltläufiger Mann. Gleich in drei Sprachen grüßt der gelernte Historiker auf seiner Website, in Polen kennt sich der passionierte Ahnenforscher genauso gut aus wie in seiner Heimatstadt Dortmund. Auch ein kritisches Wort kann man von ihm immer hören und lesen, im Deutschen Ostdienst (DOD) etwa, einer Zeitschrift des Bundes der Vertriebenen: »Die Verbrechen der Nationalsozialisten auf polnischem Boden begannen im September 1939 erst, als sich Polen an seinen deutschstämmigen Staatsbürgern vergangen hatte.«

Naziterror als Reaktion auf polnische Verbrechen? In Polen kennt man solche Behauptungen, Rechtsradikale aus dem westlichen Nachbarland bringen derlei Thesen regelmäßig in Umlauf. Sprungalas Attacke jedoch knüpft unmittelbar an eine polnische Initiative an, die in der Stadt Bydgoszcz, früher Bromberg, ihren Ursprung hat und inzwischen größere Kreise zieht. Ihr Urheber ist Wlodzimierz Jastrzebski, Historiker an der Akademia Bydgoska. Ihr Gegenstandist die Wahrheit.

»Wir müssen die Wahrheit erforschen«, sagt Pawel Machcewicz vom staatlichen Instytut Pamieci Narodowej (Institut des Nationalen Gedenkens). Es geht um die Geschehnisse, die das westpolnische Bydgoszcz am 3. und 4. September 1939 erschütterten. Hat die Stadt im Jahr 1946 zu Recht das »Grunwald-Kreuz 3. Klasse« erhalten, für ihren Widerstand gegen den Einmarsch der Nazis? Oder muss man deutschen Umgesiedelten glauben, die stattdessen polnische »Kriegsverbrechen« anprangern?

Bydgoszcz, 3. September 1939. Vor zwei Tagen hat das Deutsche Reich Polen überfallen, die Wehrmacht rückt auf die Stadt vor. Versprengte polnische Truppen sind auf der Flucht, zivile Flüchtlinge mischen sich unter sie. Verzweifelt versuchen aufgebrachte Männer, eine improvisierte Bürgerwehr aufzustellen. Sie wollen Bydgoszcz nicht kampflos aufgeben. Plötzlich geht es los. »Da fallen mir gegenüber Schüsse auf das polnische Militär«, berichtet ein Augenzeuge in dem Dokumentarfilm »Der Bromberger Blutsonntag«. Der Mann war Angehöriger der deutschsprachigen Minderheit, die fast 10 000 Menschen in der Stadt umfasste. »Da können Sie sich vorstellen, was für ein Chaos entstanden ist. Die Schießerei«, erinnert er sich, »geht auf die ganze Stadt über. Aus Kirchen, aus Ämtern, aus privaten Häusern, von den Dächern wird geschossen.«

Wer wann und warum auf wen schoss, das ist das Thema der Debatte, die Jastrzebski im August 2003 angestoßen hat. Sicher ist, dass zahlreiche Angehörige der deutschsprachigen Minderheit umkamen, Jastrzebski spricht von 358 Toten. Streit gibt es vor allem über die Frage, wie es zu den Todesopfern kam. Sabotage der Minderheit, lautete bisher die gängige Erklärung dafür.

»Meine Herren«, hatte der Führer persönlich im Frühjahr 1934 befohlen, als er mit Vertretern der deutschsprachigen Minderheiten Polens und der Tschechoslowakei konferierte: »Sie sollen nicht bloß das Deutschtum wie bisher pflegen und erhalten. Sie werden an vorderster Front es uns ermöglichen, unseren Aufmarsch zu vollziehen und unsere Kampfhandlungen einzuleiten.« Völkische Subversion zu Gunsten des Deutschen Reiches hieß der Auftrag, der den deutschsprachigen Minderheiten wenig Sympathien einbrachte – erst recht nicht im Jahr 1939, nach dem Münchner Diktat und dem Einmarsch in die Tschechoslowakei.

Und schon gar nicht in Polen, wo niemand vergessen hatte, dass deutsche Milizen noch 1921 bewaffnet gegen das Land vorgegangen waren. Als sich im Sommer 1939 der deutsche Überfall immer deutlicher ankündigt, zieht man Konsequenzen aus der Subversion der deutschen Minderheit. Auch in Bydgoszcz. Im August werden 250 Mitglieder der »Deutschen Vereinigung« verhaftet, »einer konspirativen politischen Partei«, wie der Historiker Andrzej Gasiorowski bestätigt.

Heilloses Chaos bricht aus, als am 3. September die Schießerei beginnt. Ein Angriff der deutschsprachigen Minderheit, die für den »Anschluss« zu den Waffen greift, vermuten viele noch heute. »In der Stadt gab es keine deutsche Sabotage«, meint dagegen Jastrzebski. Der Streit schlägt Wellen und beschäftigt seit dem 18. Oktober 2003 auch das Instytut Pamieci Narodowej, das »Verbrechen an der polnischen Nation« verfolgt. Eine Historikerkommission untersucht den Vorfall, manche ziehen schon Parallelen zur Jedwabne-Debatte.

Überhaupt kein Verständnis für »die Anbiederung des Herrn Professor an die Deutschen« hat Roman Jasiakiewicz, der stellvertretende Vorsitzende des Stadtrats von Bydgoszcz. In der Tat: Die Deutschen neigten schon immer der Ansicht zu, der »Bromberger Blutsonntag« sei eine Art »ethnischer Säuberung« durch polnische Nationalisten gewesen. Am richtigen polnischen Geschichtsbild hat auch die Berliner Außenpolitik Interesse. Ausgerechnet die von Deutschland finanzierte polnische Robert-Schuman-Stiftung initiierte Mitte der neunziger Jahre eine Studie, die in Polen eine breite Debatte über die Umsiedlung anstieß. Wlodzimierz Borodziej, Co-Autor der Studie, erhielt im vergangenen Jahr das Bundesverdienstkreuz I. Klasse.

Die deutschen Vertriebenenverbände nutzen unterdessen ihre Chance. Die Stimmung in Polen sei schon vor Kriegsbeginn »sehr aufgeheizt« gewesen, zetert Sprungala im DOD. »Man kann von einer regelrechten Kriegsstimmung und Hetze sprechen.« »Seit langem«, so der Öffentlichkeitsreferent der Landsmannschaft Weichsel-Warthe, bereitete Warszawa »einen möglichen Krieg gegen das Dritte Reich vor«, und es habe nach dem Kriegsbeginn eine »Pogromstimmung« gegen die Deutschsprachigen gegeben.

Einen großen Sprung nach vorn wagt Sprungala auf dem Weg, Polen zum Täterstaat und die Deutschen zu entschädigungsberechtigten Opfern zu machen. Auf »langen Verschleppungsmärschen«, schreibt er, seien »verhaftete Deutsche« nach Osten »in Konzentrationslager« transportiert worden. Je nachdem, wo sie von der deutschen Wehrmacht erreicht wurden – »in Lowitsch, Kutno, vor Warschau« – , erlebten die »Marschkolonnen« dann »die Befreiung«.

Sprungala ist ein weltoffener Mann, der BdV, der den DOD verantwortet, arbeitet selbstverständlich für die Völkerverständigung. Und so kann man beiden auch mal ein kritisches Wort zugestehen. Die »Befreiung« durch die Wehrmacht, so Sprungala im DOD, war zugleich eine »Nichtbefreiung«. Denn im »Reichsgau Wartheland«, den die Nazis in Polen errichteten, wurden »die Deutschen nicht als Staatsbürger aufgenommen (…), sondern im Gegensatz zu den Reichsdeutschen als Volksdeutsche bezeichnet«. Neue Diskriminierung also, bis sie dann schließlich nach Westen umgesiedelt wurden, die »volksdeutschen« Deutschen, die ewigen Opfer.