Europa der 25 Armeen

Die nächste EU-Erweiterungsrunde bedeutet vermutlich das Ende einer gemeinsamen Militärpolitik. Das Neue Europa Teil II. von martin schwarz, wien

Für den außen- und sicherheitspolitischen Beauftragten der Europäischen Union, Javier Solana, steht es schon fest: 2004 werde ein »spektakuläres Jahr für die EU-Außen- und Verteidigungspolitik«. Spektakulär nicht allein deshalb, weil eine neue Erweiterungsrunde unmittelbar bevorsteht, sondern weil die EU sich in diesem Sommer auch an neuen sicherheitspolitischen Experimenten versucht. Das Kommando über die SFOR in Bosnien wird von der Nato an die EU übertragen, Solana wird dann die Einsätze jener 6 000 Soldaten koordinieren müssen, die derzeit für Stabilität im multiethnischen Bosnien sorgen. Nur eines wird weiterhin Aufgabe des nordatlantischen Bündnisses sein: mutmaßliche Kriegsverbrecher wie Radovan Karadzic und Ratko Mladic zu jagen.

Dass die EU sich nun auch im sicherheitspolitischen Kontext um das Nation Building auf dem Balkan kümmert, hat große Symbolkraft für all jene, die massiv vor einer »Militarisierung der Europäischen Union« warnen und schon befürchten, aus der ehemaligen Kohle- und Stahlunion werde in den nächsten Jahren ein neues Militärbündnis entstehen. Und noch dazu eines, das sich nicht bloß auf seinem politischen Hoheitsgebiet um die Wahrung sicherheitspolitischer Standards kümmert, sondern das sich anschickt, wie auch die Nato von ihrem rein defensiven in einen offensiven Modus zu wechseln.

Solche Ängste erscheinen aber wenige Wochen vor dem Beitritt zehn neuer Mitglieder unbegründet, denn die EU erreicht aller Wahrscheinlichkeit nach mit der Erweiterung im sicherheitspolitischen Kontext weniger und nicht mehr Integration. Gerade die neuen zentral- und osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten sind keineswegs bereit, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (Gasp) zu unterstützen, die unter Umständen US-amerikanischen Interessen zuwiderläuft.

Polen hat sich im Vorjahr dafür entschieden, sich bei der Modernisierung seiner Luftwaffe nicht mit europäischem Gerät, nämlich dem Eurofighter, sondern mit dem US-amerikanischen Jet F-16 einzudecken. Der Kauf wurde allerdings zurückgestellt. Polen empfindet den EU-Beitritt als Bereicherung seiner politischen Optionen, nicht aber als Alternative zu einer Allianz mit den USA. Vielleicht liegt Polen falsch, wie Viktor Gobarev, Direktor des US-amerikanischen Think Tank Stratfor vermutet: »Polen wünscht eine lang anhaltende Allianz, aus der es auch politisch Profit schlagen kann, den USA aber ging es im Vorjahr vor allem um Unterstützung im Krieg gegen den Irak.« Die EU hat im Vorfeld des Krieges eine miserable Performance hingelegt, und obwohl sich die Staatenlenker der Union darin einig sind, dass mit dem neuen Konstrukt einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ein neues Gerüst geschaffen werden soll, beendete der Irakkrieg jeden Versuch, aus dem Europa der 25 Armeen, Sicherheitsdoktrinen und Bedrohungsanalysen eine gemeinsame europäische Sicherheitsdoktrin zu machen.

Da kann der polnische Präsident Aleksander Kwasniewski sich über die Massenvernichtungswaffen im Irak noch getäuscht fühlen, am Engagement der Polen im Irak hält er fest. Als die neue spanische Regierung ankündigte, ihre Truppen aus dem Irak abzuziehen, protestierte Kwasniewski heftig. »Wir dürfen nicht die Stabilisierungsmission durch Destabilisierung ersetzen«, polterte der linke Staatschef und meinte auch, dass die Anschläge von Madrid die Mission im Irak erst recht legitimierten. Noch dazu fühlt sich Polen nach wie vor durch etwas bedroht, das von Deutschland, Frankreich und Russland vor dem Irakkrieg als politisches Antiserum zur Rumsfeld’schen Spontantheorie vom »neuen und alten Europa« erfunden wurde: der neue europäische Trilateralismus, herausgebildet zwischen Paris, Berlin und Moskau. Polen sieht sich – wie auch Estland, Lettland und Litauen – nach wie vor von Moskau bedroht, und diese neue Achse war nicht unbedingt eine vertrauensbildende Maßnahme. Wie sehr Warschau die transatlantischen Beziehungen fördert, zeigt auch der Eifer, Nato-Ressourcen ins Land zu verlagern. Als erstes Land hat Polen sich für die Aufstellung von Nato-Einheiten entschieden, heute schiebt ein polnisch-deutsch-dänisches Korps unter der Nato-Flagge in Szczecin Dienst.

Möglicherweise wird Polen auf die noch immer äußerst quirlige Allianz Paris-Berlin-Moskau mit Bemühungen reagieren, auch Teil einer konkurrierenden Achse zu werden. Spanien mag als Partner für solche Experimente nach dem Regierungswechsel in Madrid nicht mehr zur Verfügung stehen, Großbritannien und Italien aber könnten nach wie vor für Warschau von Interesse sein. Das gemeinsame Engagement im Irak dient hier als politischer Zement solcher Bündnisse innerhalb der EU. Dabei wäre Polen für die Union militärisch von großer Bedeutung; das Land hat mit 163 000 Mann Truppenstärke die größte unter den neuen Armeen der EU und auch eine der modernsten.

Ebenso kompliziert wird es für die EU auch im Falle der baltischen Staaten, mehr als bloß eine zu den Nato-Strukturen parallele oder komplementäre Sicherheitspolitik herauszufiltern, denn Estland, Lettland und Litauen vertrauen in dieser Hinsicht allein auf die USA und die Nato. So heißt es im litauischen Verteidigungsgesetz, die größten Gefahren würden dem Land aus instabilen Demokratien und hochgerüsteten Gebieten an seinen Grenzen drohen: der russischen Exklave Kaliningrad etwa und natürlich auch dem einzigen noch vorhandenen europäischen Paria-Staat, Weißrussland. Auch hier wird sichtbar, wie sehr die neuen EU-Mitglieder in Russland Bedrohungen orten – was den Bestrebungen einiger EU-Staaten, Russland zu einem Partner aufzubauen, eher zuwiderläuft.

Schon jetzt hat die EU-Zentrale in Brüssel mit historischen Hypotheken der vorhandenen Mitgliedsstaaten zu kämpfen; die Neutralität Österreichs und Schwedens etwa könnte jederzeit Bestrebungen einer militärischen Einigung stoppen. Wenn aber die neuen Mitgliedsstaaten nun auch noch ihre eigenen historischen Erfahrungen mit der sowjetischen Bedrohung zum Leitbild ihrer EU-Sicherheitspolitik machen, dann wird Javier Solana scheitern.

Eine Variable aber hat noch großen Einfluss: die Besetzung des Weißen Hauses ab November 2004. Sollte nämlich John Kerry den derzeitigen Präsidenten ablösen, könnten auch die willigen Koalitionäre in Osteuropa vor einer neuen Situation stehen. Kerry jedenfalls hat die selektive Bündnispolitik seines möglichen Vorgängers Bush im Irak schon arg kritisiert: »160 Mongolen, 43 Esten und 83 Filipinos, das ist keine Koalition, das ist eine Täuschung.«