Taipeh–Operette

Die Proteste gegen Unregelmäßigkeiten bei den Präsidentschaftswahlen in Taiwan dauern an. von volker häring

Taiwan erlebt in den Wochen nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen die größten sozialen Unruhen seit Beendigung des Einparteiensystems der Guomingdang im Jahr 1986. Seit der Verkündigung des vorläufigen Wahlergebnisses am 20. März sind mehr als eine Million Menschen auf die Straßen gegangen. Der von der Opposition massiv unterstützte Protest richtet sich vor allen gegen Unregelmäßigkeiten bei der Stimmenauszählung. Zu den Forderungen der Demonstranten gehören neben einer Neuauszählung auch die unabhängige Untersuchung des Attentates auf den amtierenden Präsidenten Chen Shui-bian und seine Stellvertreterin Annette Lu.

Nach dem offiziellen Wahlergebnis gewannen Chen und seine Demokratische Fortschrittspartei (DPP) mit einem Vorsprung von 0,2 Prozent gegen den Kandidaten der oppositionellen Guomingdang (GMD), Lien Chan. Dies entspricht 29 000 Stimmen. Aufsehen erregte vor allen die ungewöhnlich hohe Zahl ungültiger Stimmen, die mit 300 000 angegeben wird. Während unabhängige Beobachter davon ausgehen, dass sie vor allem auf Protestwähler zurückzuführen ist, spricht die Opposition unverhohlen von Wahlfälschung.

Zudem wirft sie Chen vor, mit einem fingierten Attentat auf seine Person die öffentliche Meinung manipuliert zu haben. Am Vortag der Wahl hat ein Unbekannter auf Chen Shui-bian geschossen und ihn und Annette Lu leicht verletzt. Misstrauen erweckte die Tatsache, dass die Sicherheitsvorkehrungen außergewöhnlich lax waren, die Verletzungen beider Politiker, jeweils ein Streifschuss an Knie und Bauch, ungewöhnlich waren und die Flugbahn der Kugeln ähnlich mysteriös war wie beim Kennedy-Attentat. Während die Regierung inzwischen von einem »durchgeknallten« Zuschauer als Täter spricht, wirft die Opposition ihr eine Inszenierung vor. Nahezu unstrittig ist, dass der Sympathieeffekt, den das Attentat für Chen Shui-bian hatte, die Wahl zu seinen Gunsten entschied. Umfragen kurz vor der Wahl hatten noch einen Sechs-Prozent-Vorsprung Lien Chans ergeben.

Bereits am Wahlabend weigerte sich Lien Chan, den Sieg Chens anzuerkennen. Am Tag nach der Wahl ließ das Oberste Gericht Taipehs die Wahlurnen versiegeln. Unter dem Druck der Straße – einige Tausend Demonstranten belagerten seit der Wahlnacht den Präsidentensitz – stimmte Chen am 23. März schließlich einer Neuauszählung der Stimmen zu. Ein entsprechender Parlamentsentscheid kam jedoch nicht zustande, da die damit zusammenhängende Aussprache zu einer Schlägerei zwischen Mitgliedern der Regierung und der Opposition eskalierte. Während unabhängige Beobachter nicht davon ausgehen, dass eine Neuauszählung der Stimmen eine Veränderung des Wahlergebnisses bringen würde, geht es der Opposition vor allem darum, den Schatten des Zweifels auf der Wahl zu lassen.

Denn alles andere als eine vollständige Widerlegung der Vorwürfe der Opposition wird es Chen schwer machen, seine ambitionierten politischen Ziele vor allem im Umgang mit der VR China zu erreichen. Er gilt als Verfechter der Unabhängigkeit Taiwans vom Festland und hat sie im Wahlkampf immer wieder propagiert. Äußerst kontrovers wurde das geplante Referendum über das Verhältnis zur VR China diskutiert. Chen wollte es mit der Präsidentenwahl verknüpfen, die Opposition setzte schließlich vor der Zentralen Wahlkommission eine getrennte Befragung durch und rief erfolgreich zum Boykott auf. Die GMD befürwortet eine gemäßigte Haltung gegenüber der VR China und setzt auf Intensivierung der Kontakte.

Zwar stimmte die Mehrheit der am Referendum teilnehmenden Wähler bei der Frage, ob Taiwan mehr Waffen zur Raketenabwehr anschaffen soll, falls sich Peking weigere, seine auf die Insel gerichteten Raketen abzurüsten, mit Ja und sprach sich gleichzeitig dafür aus, dass Taiwan mit Peking über einen neuen »Friedens- und Stabilitätsrahmen« verhandeln sollte. Die Wahlbeteiligung lag jedoch nur bei 47 Prozent, das Referendum gilt deshalb als gescheitert.

Die chinesische Regierung wertete dies als Votum gegen eine Unabhängigkeit Taiwans und wiederholte die Drohung, Taiwan im Falle einer Unabhängigkeitserklärung anzugreifen. Dennoch ist eine Eskalation des Konfliktes zwischen dem Festland und der Insel unwahrscheinlich. Die VR China ist der wichtigste Handelspartner Taiwans, bei den Direktinvestitionen in China wird Taiwan nur von Südkorea übertroffen. Die wirtschaftliche Verflechtung beider Länder ist so groß, dass ein Krieg ökonomischer Selbstmord wäre. Eine internationale Isolation würde die VR China angesichts der bevorstehenden Olympischen Spiele in Peking im Jahr 2008 und der zunehmenden ökonomischen Abhängigkeit vom Weltmarkt zudem kaum riskieren.

Eine allzu radikale Haltung Chens könnte die Regierung der VR China jedoch dazu bringen, unter innenpolitischem Druck für eine militärische Lösung zu optieren. Chens Politik ist ein heikler Balanceakt zwischen innenpolitischem Kalkül und außenpolitischer Vernunft, der angesichts seiner umstrittenen Legitimität nicht einfacher wird. Tatsächlich ist es nur die Haltung zum Festland, die die beiden politischen Lager in Taiwan unterscheidet. Weder in der Wirtschaftspolitik noch in der politischen Reputation beider Parteien sind große Differenzen auszumachen, auch wenn die GMD die DPP für die schlechte wirtschaftliche Situation Taiwans verantwortlich macht und die DPP sich weiterhin als »saubere« Partei im Gegensatz zur korrupten GMD darstellt. Während die wirtschaftliche Situation Taiwans als Exportnation vor allem auf die schlechte Weltmarktlage und die Billiglohnkonkurrenz zurückzuführen ist, wurde die weiße Weste der DPP vor der Wahl mit einigen Korruptionsvorwürfen und nun mit dem Vorwurf der Wahlmanipulation in Frage gestellt.

Allerdings scheint es der DPP gelungen zu sein, den Schwarzen Peter der Opposition zuzuschieben. Mit der Zulassung der vollständigen Neuauszählung der abgegebenen Stimmen hat die Regierung der Opposition unter Lien den Wind aus den Segeln genommen. Diese sieht sich nun mit Vorwürfen der Regierung konfrontiert, die soziale Stabilität der Insel zu gefährden. Chen setzt hier auf eine Karte, die sonst die Opposition gerne gegen ihn ausspielt: die Angst vor einem Angriff der VR China. Tatsächlich wäre es nach der auf dem diesjährigen Nationalen Volkskongress beschlossenen Verfassungsänderung möglich, dass die Nationale Volksarmee im Falle sozialer Unruhen in Taiwan einmarschieren könnte, das nach volksrepublikanischer Auffassung immer noch als Provinz Chinas gilt. Auch wenn dies eher unwahrscheinlich ist, erfüllt das Drohszenario im politischen Machtkampf doch seinen Zweck.