»Wir riefen: ›Schießt doch, ihr Hunde!‹«

Adam König

Am 22. April 1945 wurde das Konzentrationslager Sachsenhausen von der Roten Armee befreit. Zwischen 1936 und 1945 wurden dort ungefähr 100 000 Menschen ermordet. Adam König, 1922 in Frankfurt am Main geboren, wurde 1939 als Jude festgenommen und kam nach Sachsenhausen, wo er im Klinkerwerk arbeiten musste. Nach einer Widerstandsaktion im Oktober 1942 wurde er nach Auschwitz deportiert und musste in dem IG-Farben-Werk Monowitz arbeiten. Er überlebte den Todesmarsch, englische Soldaten befreiten ihn in Bergen-Belsen. Heute ist er im Sachsenhausenkomitee aktiv, der Vertretung der politischen Gefangenen. Am 18. April findet auf dem Gelände des ehemaligen KZ Sachsenhausen eine Gedenkfeier statt. Mit Adam König sprachen Anna Dost und Nele Geißler.

Sie waren von 1939 bis 1942 in Sachsenhausen interniert. Wurde dort unter den politischen Häftlingen der besonders gefährdeten Situation der jüdischen Genossen Rechnung getragen?

Ja, das war zum Teil der Fall. Die politischen Gefangenen hielten untereinander und unabhängig von Nationalität oder Herkunft Kontakt und bemühten sich im Lager und in den Baracken darum, eine Atmosphäre zu schaffen, die kameradschaftliches Zusammenleben förderte. An der untersten Stelle der Hierarchie standen Juden, und so war es von Bedeutung und wurde auch als Problem gesehen und diskutiert, wie man den am meisten bedrängten Erleichterung verschaffen konnte.

Veränderten sich die Haftbedingungen 1941 nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion?

Das war eine große Zäsur im Lagerleben. Wir haben erleben müssen, wie über 13 000 sowjetische Kriegsgefangene erschöpft und heruntergekommen ins Lager getrieben und in nächtlichen Aktionen in einer Genickschussanlage ermordet wurden. Mit den Kriegserfolgen der Wehrmacht in den ersten Monaten schwanden die Hoffnungen auf einen möglichen Sieg der Alliierten und damit auf die Freiheit. In unserer Baracke herrschte eine große Depression. Man konnte beobachten, dass die rassistische Politik in eine neue Phase getreten war, dass Juden nicht mehr nur verfolgt und vertrieben, sondern auch vernichtet wurden. Wir bekamen Informationen über Majdanek und Auschwitz. Nach dem Brandanschlag der Widerstandsgruppe um Herbert Baum im Mai 1942 auf die antikommunistische Hetzausstellung »Das Sowjetparadies« gab es eine »Vergeltungsaktion« der Nationalsozialisten. Danach wurden 500 Juden aus Berlin umgebracht, davon 250 in Sachsenhausen. Unter ihnen waren 96 jüdische Häftlinge, willkürlich aus den drei Baracken des Kleinen Lagers genommen. Wir wussten, dass sie im Erschießungsgraben des Industriehofs umgebracht wurden. Danach haben wir beschlossen, uns nicht widerstandslos erschießen zu lassen, wenn es dazu kommen sollte.

Am 22. Oktober 1942 beteiligten Sie sich im KZ Sachsenhausen an einer Widerstandsaktion. Erzählen Sie bitte davon.

Sofort als wir darüber geredet haben, habe ich mich dazu entschlossen. Insgesamt waren wir 18 Leute, die an der Aktion beteiligt waren. Ich war mir sehr sicher, dass wir erschossen würden. Ich erinnere mich noch, dass wir ziemlich gefasst waren und uns voneinander verabschiedeten. Man war ja schon drei Jahre lang jeden Tag damit konfrontiert und hatte kaum Hoffnung, das alles zu überleben.

Gab es vorherige Absprachen?

In vollem Umfang habe ich erst danach erfahren, dass es Absprachen unter den Genossen gab. In der Isolationsbaracke kam uns der Gedanke, dass das Gerücht um eine bevorstehende Deportation in Wahrheit von der SS gestreut worden sein könnte, um die Gefangenen zu beruhigen. Vielleicht, so dachten wir jetzt, wollen sie uns nicht deportieren, sondern hier erschießen. Es schien mir sehr wahrscheinlich, dass es für den Fall von Erschießungen Absprachen gab. Die Leute waren verantwortungsbewusst genug, so etwas nicht zu planen, ohne vorher die anderen zu informieren oder eine Aussprache zu führen.

Was war der Anlass für Ihren Mut?

Am Tag zuvor wurde bekannt gegeben, dass wir am nächsten Tag nicht arbeiten müssten. Ich lag zu der Zeit mit Ruhr im Krankenbau. Die Genossen legten mir sogar nahe, im Lager zu bleiben. Das habe ich aber abgelehnt, ich wollte mit den anderen gehen. Abends war ich wieder in der Baracke. Am 22. Oktober wurden wir durch die Blockführer auf den Appellplatz getrieben und in einer Isolierbaracke umgekleidet. Uns wurde dort alles abgenommen, persönliche Kleidungsstücke, die Häftlingskleidung, auch die Schuhe, man gab uns Holzpantinen, Drillichzeug. Das ganze sah nicht nach Transport aus, sondern eher nach einer Vorbereitung auf die Erschießung. Es gab zynische Bemerkungen der Blockführer, dass wir »durch den Schornstein« gehen würden. In dieser Situation kam es zu Gesprächen unter politischen und jungen jüdischen Häftlingen. Dabei wurde der Beschluss gefasst, beim Abendappell, wenn das ganze Lager angetreten war, aus dieser Isolierbaracke – die war von einer Postenkette umstellt – auszubrechen und zum Appellplatz zu rennen. Unsere Losung lautete: »Schießt doch, ihr Hunde!«

Und dann?

Wir haben also das Fenster der Baracke aufgestoßen. Die Posten draußen waren ganz verdutzt. Da wir in Richtung Appellplatz liefen, haben sie aber nicht geschossen. Wir sind also auf den Appellplatz gerannt, haben die Losung gerufen und sind auf die SS los. Die waren natürlich stärker und haben uns zusammengeschlagen, direkt am Lagertor, am Turm A. Es gab ziemlichen Aufruhr. Der Lagerführer fragte nach unserem Anführer. Horst Jonas meldete sich und antwortete, dass wir überzeugt seien, wir würden nicht auf Transport, sondern in den Erschießungsgraben gehen. Der Lagerführer ordnete an, uns die Kleidung zurückzugeben und uns noch am selben Abend nach Auschwitz deportieren zu lassen. Das ist dann auch passiert.

Warum hat die SS nicht geschossen?

Sie musste den Befehl abwarten, außerdem standen etwa 12 000 Häftlinge auf dem Appellplatz und in diese Menge wollten sie wohl nicht hineinschießen. Es war ein wirkliches Novum, dass so eine Aktion im Lager passiert ist, ohne dass Erschießung oder Erhängung die Konsequenz gewesen wären. Häftlinge, die dies beobachteten und die ich nach der Befreiung traf, berichteten, dass es noch lange danach ein großes Aufsehen gab. Etwas Vergleichbares ist sonst nicht passiert.

Wie haben Sie die Befreiung in Bergen-Belsen erlebt?

Es war ein schöner Frühling, die Sonne schien. Aber richtig froh sein konnte man nicht. Wahrscheinlich weil man ja inzwischen wusste, was passiert war. Und es dauerte eine Weile, bis man begriff, was jetzt für Veränderungen eingetreten waren. Es fehlte ja auch ein ziemlich wichtiger Lebensabschnitt, vom 16. bis 22. Lebensjahr.

Was sagen Sie denen, die fragen, warum sich in den Konzentrationslagern niemand gewehrt habe?

Das war da ja kaum möglich. Aber dass Juden nicht gekämpft hätten, ist eine Legende. Allein bei den alliierten Streitkräften war der Anteil der Juden beträchtlich. Auch im spanischen Bürgerkrieg waren von den Kämpfern in den internationalen Brigaden mindestens 15 Prozent Juden. In Palästina haben sich während des Zweiten Weltkriegs fast alle Wehrfähigen freiwillig gemeldet, es gab auch eine jüdische Brigade in der britischen Armee.