Yaacov Amidror, ehemaliger Vorsitzender von Israels Nationalem Sicherheitsrat, im Gespräch über eine mögliche Boden­offensive in der letzten Hamas-Hochburg im Gaza-Streifen

»Ich sehe keine Alternative zu einer Bodenoffensive in Rafah«

Der Krieg Israels gegen die Hamas dauert bereits ein halbes Jahr an. Die »Jungle World« sprach mit dem ehemaligen Vorsitzenden von Israels Nationalem Sicherheitsrat, Yaacov Amidror, über Israels umstrittene Pläne für eine militärische Bodenoffensive in Rafah im Süden des Gaza-Streifen, von wo aus Terroristen der Hamas am 7. Oktober ihren Überfall auf Israel unternahmen.
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Israels Militär bereitet sich auf eine Bodenoffensive in der Stadt Rafah im Süden des Gaza-Streifens vor. Die USA, Deutschland und viele andere Länder warnen vor so einer Operation. Sie befürchten verheerende humanitäre Konsequenzen für die 1,5 Millionen Palästinenser, die dort leben; die meisten von ihnen sind wegen des Kriegs aus den nördlicheren Gebieten des Gaza-Streifens dorthin evakuiert worden. Warum besteht Israel trotz aller internationaler Kritik auf der Operation?
In Rafah befindet sich die vier letzten noch bestehenden Bataillone der Hamas. Diese können nur durch eine Bodenoffensive in der Stadt zerschlagen werden. Ich denke, dass die US-Amerikaner das auch verstehen. Jedenfalls habe ich von deren Seite keinen Vorschlag gehört, wie das Ziel, die Hamas zu stürzen, ohne eine solche Bodenoperation zu erreichen wäre.

Vertreter der US-Regierung behaupten das Gegenteil. Präsident Joe Biden, Außenminister Antony Blinken und Verteidigungsminister Lloyd Austin erklärten, es gebe Alternativen zu einer Bodenoffensive in Rafah. Zuletzt sagte das auch der sicherheitspolitische Sprecher des Weißen Hauses, John Kirby, in einem Interview mit der israelischen Journalistin Yonit Levy Mitte vergangener Woche. Können Sie sich vorstellen, was die US-Amerikaner damit meinen, wenn sie von solchen Alternativen reden?
Nein, kann ich nicht. Und so wie ich Kirby in dem Interview verstanden habe, hat er gesagt, dass die USA nichts gegen eine Bodenoffensive in Rafah hätten, wenn wir die Zivilbevölkerung vorher von dort evakuieren.

Interpretieren Sie das so? Wörtlich sagte Kirby in dem Interview: »Wir können keine großangelegte Bodenoffensive in Rafah unterstützen, die keinen realistisch umsetzbaren Plan beinhaltet, die 1,5 Millionen Bewohner Gazas zu schützen, die dort Zuflucht suchen«, nachdem sie aus Khan Yunis, Gaza-Stadt und den anderen Kampfgebieten im Norden des Gaza-Streifens dorthin geflohen seien. Weiter sagte Kirby unter anderem: »Wir verstehen, dass es notwendig ist, gegen die Hamas vorzugehen. Und wir wissen, dass sich Hamas-Kämpfer in Rafah aufhalten. Aber wir glauben nicht, dass es eine gute Idee ist, mit Bodentruppen nach Rafah einzurücken, und dass es andere Wege gibt, dieser Bedrohung (durch die Hamas, Anm. d. Red.) zu begegnen.«
Ich bin kein Experte zur Interpretation der Aussagen von John Kirby. Ich bin ein Experte für militärische Angelegenheiten. Und als solcher sehe ich keine Alternative zu einer Bodenoffensive in Rafah. Ich habe mich auch mit anderen US-amerikanischen Militärexperten darüber ausgetauscht und mir ist keine Alternative vorgestellt worden.

Wie soll die Zivilbevölkerung in Rafah während einer solchen Operation geschützt werden?
Indem sie, wie das auch in den anderen Kampfgebieten geschehen ist, evakuiert wird. Sobald die derzeitigen Kampfhandlungen im sieben Kilometer nordwestlich von Rafah gelegenen Khan Yunis abgeschlossen sind, wird die israelische Armee dort humanitäre Schutzzonen für die zu Evakuierenden ausweisen. Sie hat bereits damit begonnen, die Versorgung dieser Gebiete mit Wasser und Lebensmitteln vorzubereiten. Außerdem wurden 40.000 Zelte aus China bestellt.

Israelische Medien berichten, dass die israelische Armee damit begonnen habe, Rafah vom restlichen Tunnelsystem des Gaza-Streifens abzukoppeln. Außerdem seien in Rafah befindliche Wohnungen von Terroristen, Kommandozentralen der Hamas und Waffenlager bereits angegriffen worden. Hat die Operation in Rafah längst begonnen, während eine politische Scheindebatte geführt wird?
Nein. Es stimmt, dass man damit begonnen hat, Rafah vom Tunnelsystem Gazas abzutrennen. Außerdem gab es vereinzelte Angriffe aus der Luft gegen strategische Ziele der Hamas. Zurzeit sind aber noch keine israelischen Bodentruppen nach Rafah eingerückt. Das wird aber ganz sicher geschehen.

Was genau wird auf die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus Rafah folgen?
Die Operation wird in etwa dem gleichen Muster wie die Offensiven in anderen Teilen des Gaza-Streifens folgen. Die Evakuierung der Bevölkerung wird zwei bis drei Wochen in Anspruch nehmen. Danach wird es zum Einsatz schwerer Geschütze, sowohl an der Oberfläche als auch unterirdisch, in den Tunneln unter Rafah, kommen, bis die Hamas die Kontrolle über das Gebiet verliert und wir ihre letzten vier Bataillone zerschlagen haben. Anschließend müssen sämtliche dort befindlichen Waffenbestände zerstört werden.

Offenbar ist es der Hamas gelungen, in Gebiete Gazas zurückzukehren, in denen Israel sie bereits besiegt zu haben glaubte. So kam es erst kürzlich zu einem erneuten Einsatz israelischer Streitkräfte gegen Hamas-Kämpfer, die aus dem al-Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt operierten.
Ja, aber bei dieser Operation handelte es sich um einen verhältnismäßig kurzen und präzisen Einsatz, der nicht mit den viel längeren, intensiveren und verlustreichen Kämpfen zu vergleichen ist, die zwischen November und Januar um das al-Shifa stattgefunden hatten. Auch der Personaleinsatz war viel geringer. An der Operation im vergangenen Winter waren zwei Divisionen (circa 24.000 Soldatinnen und Soldaten, Anm. d. Red.) beteiligt. Diesmal waren es gerade mal zweieinhalb Bataillone (circa 2.500 Soldatinnen und Soldaten, Anm. d. Red.).

»Zivil wird Gaza weiterhin von den Palästinensern selbst verwaltet werden. Aber die israelischen Streitkräfte bereiten den Boden dafür vor, bei Terrorgefahr direkt und gezielt intervenieren zu können.«

Ihnen gelang es, das Krankenhaus innerhalb einer halben Stunde zu isolieren und innerhalb von zwei Wochen 200 Terroristen zu töten sowie 500 weitere festzunehmen. Und das ohne einen einzigen Patienten oder Mitarbeiter des medizinischen Personals zu verletzten. Das war nur möglich, weil die Hamas dort nach dem vorhergehenden Einsatz der israelischen Streitkräfte nicht mehr die Oberhand hat. In Rafah wird es darum gehen, eine vergleichbare Situation herbeizuführen.

Das Ziel der Operation in Rafah ist es also, die Basis für eine bessere Interventionsfähigkeit der israelischen Sicherheitskräfte zu schaffen?
Genau. Zivil wird Gaza weiterhin von den Palästinensern selbst verwaltet werden. Aber die israelischen Streitkräfte bereiten den Boden dafür vor, bei Terrorgefahr direkt und gezielt intervenieren zu können.

Wer soll den Gaza-Streifen am Ende zivil und politisch verwalten, wenn die Hamas zerstört ist?
Das wissen wir im Moment noch nicht. Das ist eine politische Frage. Dazu will ich mich nicht äußern. Auf jeden Fall wird es nicht die Hamas sein.

Ende Februar berichteten internationale Medien unter Berufung auf Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums, dass rund 30.000 Palästinenser bis zu diesem Zeitpunkt im derzeitigen Gaza-Krieg getötet worden seien. Allerdings lassen sich diese Zahlen nicht wirklich nachprüfen und werden deswegen auch immer wieder in Zweifel gezogen. Gibt es israelische Schätzungen, wie viele Palästinenser getötet worden sind?
Nein. Wir wissen nicht, wie viele palästinensische Zivilisten ums Leben gekommen sind. Aber wir wissen, dass die israelische Armee circa 12.000 Kämpfer der Hamas getötet hat. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die Zahlen des palästinensischen Gesundheitsministeriums stimmen, dann würde das heißen, dass pro Hamas-Kämpfer zwei Zivilisten getötet wurden. Das ist ein wesentlich geringerer Anteil an zivilen Opfern als weltweit in den meisten anderen Kriegen dieses Jahrhunderts.

»Der Iran versucht, Israel über seine Proxys in der Region, wie die Hizbollah und die Hamas, zu bekämpfen und sich dabei selbst aus der Verantwortung zu ziehen.«

Prinzipiell gilt für alle militärischen Auseinandersetzungen in urbanen Gegenden, dass Zivilisten in Mitleidenschaft gezogen werden. Doch während die israelische Armee versucht, die Anzahl ziviler Opfer zu minimieren, versucht die Hamas gezielt, die Anzahl ziviler Opfer auf der eignen Seite nach oben zu treiben, um so internationalen politischen Druck auf Israel zu erzeugen. Die Hamas positioniert ihre Stellungen absichtlich inmitten ziviler Einrichtungen, um Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen. Außerdem versucht sie, Zivilisten daran zu hindern, der Evakuierung aus den Kampfgebieten Folge zu leisten.

Am Montagabend wurde mehrere hochrangige Kommandeure der iranischen Revolutionsgarden nahe der iranischen Botschaft in der syrischen Hauptstadt Damaskus durch einen mutmaßlichen israelischen Luftangriff getötet. Unter ihnen war der 63jährige Mohammad Reza Zahedi, der als Kontaktmann Irans zur Hizbollah im Libanon und zu Syriens Präsident Bashar al-Assad fungierte. Welche Bedeutung messen Sie diesem Vorfall bei?
Der Iran versucht, Israel über seine Proxys in der Region, wie die Hizbollah und die Hamas, zu bekämpfen und sich dabei selbst aus der Verantwortung zu ziehen. Auch der Drohnenangriff auf eine Basis der israelischen Marine in der südisraelischen Hafenstadt Eilat in der Nacht von Sonntag auf Montag geht auf das Konto einer iranischen Miliz. Die Tötung Zahedis ist ein wichtiges Signal an den Iran, dass er sich nicht hinter seinen Proxys verstecken kann und keine Immunität genießt.

Bei einer ähnlichen Aktion gelang es den israelischen Streitkräften Anfang Januar, den Kommandeur der Hamas im Libanon, Saleh al-Arouri, in seiner Wohnung in Beirut zu töten, obgleich sie dort keinerlei territoriale Kontrolle haben. Im Gaza-Streifen hingegen, der seit fünf Monaten von israelischen Bodentruppen durchkämmt wird, ist es immer noch nicht gelungen, die dortigen Anführer der Hamas, Yahya Sinwar und Mohammed Deif, zu fassen. Wie ist das zu erklären?
So ist das eben. Manchmal verbucht man Erfolge und manchmal Misserfolge. Auch ein Geschäftsmann verdient mal viel Geld mit einem Deal und verliert dann viel Geld in einem anderen. Es handelt sich bei den beiden Fällen, die Sie miteinander vergleichen, um unterschiedliche Gebiete, in denen verschiedene Einheiten der Luftwaffe aktiv sind und in denen wir unterschiedliche Fähigkeiten haben. Auch Zufall spielt eine Rolle. Man braucht für eine erfolgreiche Operation immer auch ein bisschen Glück.

Welche Ressource hat Israel im Libanon, wo Saleh Arouri getötet wurde, die im Gaza-Streifen offenbar fehlen?
Wie haben dort nicht die gleichen geheimdienstlichen Informationen, die wir im Libanon haben.

Und wie kommt es, dass die geheimdienstliche Informationslage im Gaza-Streifen schlechter ist als die im Libanon ist?
Ich habe nicht gesagt, dass die geheimdienstliche Lage im Gaza-Streifen schlechter als die im Norden ist. Das ist Ihre Schlussfolgerung, nicht meine.

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Yaacov Amidror

Yaacov Amidror

Bild:
privat

Yaacov Amidror ist ehemaliger General der israelischen Armee und hatte von 2011 bis 2013 den Vorsitz von Israels Nationalem Sicherheitsrat inne. Amidrors militärische Kariere begann 1966 als Fallschirmspringer. Während des Sechstagekriegs 1967 kämpfte er im Gaza-Streifen und auf den Golan-Höhen. Während des Yom-Kippur-Kriegs 1973 war er Offizier beim Geheimdienst der israelischen Armee, wo er insgesamt 25 Jahre lang diente und unter anderem die Forschungsabteilung und das Kommando zum Schutz der Grenzen Israels zu Syrien und zum Libanon leitete. Von 1996 bis 1998 war er sicherheitspolitischer Berater des israelischen Verteidigungsministers. Von 1998 bis 2002 leitete er als General Israels Militärakademien. Er war für das Begin–Sadat Center for Strategic Studies tätig und gehört dem Jerusalem Institute for Strategic Studies an.