Letzte Naies

Zvi Blumenfrucht ist ein Überlebender des Holocaust. Seine Zeitung will die jiddische Sprache bewahren. von thomas blum

Können Sie Jiddisch? Es gibt viele Worte, die aus der jiddischen Sprache stammen und bis heute im Deutschen gebräuchlich sind, wie etwa »Mischpoke«, »Schickse« oder »Chuzpe«. Hat man ein offenes Gespräch, wird »Tacheles« geredet. Hat einer nicht alle Tassen im Schrank, gilt er als »meschugge«. Und für Dinge, die man hasst, die schief gehen oder Unsinn sind, hat man gleich mehrere wohlklingende Begriffe parat, denn die askenasischen Juden, deren Sprache das Jiddische ist, kennen sich mit derlei Sachen aus: »Schlamassel«, »Tinnef«, »Schmonzes«, »Stuss«. Es handelt sich um eine germanische Sprache, die sich im Mittelalter aus mittelhochdeutschen Dialekten, dem Hebräischen, slawischen und romanischen Sprachen entwickelte.

Zvi Blumenfrucht kann Jiddisch. Er ist 78 Jahre alt, eine imposante Persönlichkeit, ein Freund und Kenner der jiddischen Literatur, die ihre Blütezeit im 19. Jahrhundert erlebte, und hat überdies das seltene Glück, dass sein liebreizend klingender Name schön mit seiner Leidenschaft, der Sprache der Poesie, korrespondiert. Er ist Schriftsteller und Journalist und arbeitet für eine kleine israelische Wochenzeitung namens Letzte Naies (»Letzte Neuigkeiten«), die sich überwiegend mit der jiddischen Sprache und Literatur beschäftigt, die, wie er sagt, »von einem feinen Gehör aufgenommen wird wie Musik«. Auch das Leben und Werk jüdischer Schriftsteller und Philosophen, beispielsweise Heinrich Heine, Moses Mendelssohn oder Jakob Wassermann, werden thematisiert.

Die parteiunabhängige Zeitung, die Herr Blumenfrucht 1952 mitbegründet hat und deren ständiger Kolumnist er ist, hat es sich zur Aufgabe gemacht, sich insbesondere um den Erhalt der jiddischen Sprache zu kümmern, kommentiert aber auch aktuelle Ereignisse der Woche.

Und wie das zusammengeht, jiddische Lyrik und Lieder einerseits und israelische Politik andererseits, das erklärt er auch: »Wissen Sie, hier wird verhandelt über alles, was mit Juden zu tun hat, und das muss wie ein Zopf geflochten sein, und der Zopf muss gepflegt sein, wie ein Zopf von einer eleganten Frau.«

Nicht selten macht Herr Blumenfrucht die Erfahrung, dass Jiddisch und Hebräisch sprechende Überlebende des Holocaust, die Leser der Zeitung sind, sich an ihn wenden, um ihm ihre Geschichte zu erzählen, damit er sie aufschreibt, und er weiß dann, was seine Aufgabe ist: »Sie sprechen eine Umgangssprache, die von innen aus ihnen kommt, und ich als Schriftsteller verputze sie.« Doch er macht vermutlich mehr als das. Nicht nur übersetzt er ihre in Umgangssprache erzählten Lebensgeschichten in eine literarische Sprache, er bewahrt so auch die Erinnerung an den Holocaust und seine Opfer, denn auch das ist eine Sache, der sich die Zeitung, für die er tätig ist, widmet.

Die Redaktion der Wochenschrift, die in einer Auflage von 45 000 Exemplaren erscheint und 16 Mitarbeiter hat, sitzt in Tel Aviv, doch wer nun glaubt, das Jiddische sei eine Sprache, die heute nicht mehr gesprochen wird, irrt. Herr Blumenfrucht versichert, dass es bis heute Abonnenten nicht ausschließlich in Israel gibt, sondern auch in den USA, in Frankreich, in Deutschland, in Südamerika und Osteuropa.

Als ich ihn treffe, sprechen wir über so Manches, nicht nur über die Letzte Naies. Herr Blumenfrucht ist nämlich nicht nur Kolumnist, Schriftsteller und ein charmanter Gesprächspartner (»Darf ich Ihnen einen Kaffee machen? Und nehmen Sie von dem Obst, bitte!«), er ist auch religiös und ein hingebungsvoller Familienmensch, der mit mir sowohl freimütig über Liebe und Partnerschaft diskutiert (»Aber schreiben Sie das nicht, das ist privat«) als auch über das Bild, das viele Europäer sich von den Juden und dem Staat Israel machen.

Für das Land hat er ein Bild parat. Und weil er ein Poet ist, beschreibt er es auf seine Art: »An Bord des Schiffes sind die Menschen befreundet. Ist ein Riss im Schiff, dann bedeutet das den gemeinsamen Tod, dann sinkt das Schiff auf den Grund, das ist unser gemeinsames Los. Es ist genug Platz für beide Völker. Wir wünschen uns, dass der Frieden kommt. In meinem Leben habe ich genug Blutbäder gesehen.« Da hat er Recht.

Einen der schönsten Sätze sagt er, bevor wir uns verabschieden: »Das Leben ist kein Picknick, da muss man eine feste Meinung haben.« Und schon wieder hat er Recht.

Herr Blumenfrucht ist ein Optimist. Er glaubt an die Menschen, und er spricht gerne mit ihnen, auch mit den Deutschen, von denen er annimmt, sie seien heute ganz und gar andere als vor sechzig Jahren.

Bereits kurz nach der Ankunft unserer Redaktion im Hotel, in dem er zur selben Zeit residiert, beim Abendessen, als er einige von uns Deutsch sprechen hört, wendet er sich uns überaus höflich und interessiert zu und fragt nach Orten, die er in Deutschland kennt, und wir freuen uns, dass uns unverhofft jemand gleich so viel Aufmerksamkeit schenkt.

Auf seinem Arm ist eine eintätowierte Nummer zu erkennen, die ihn als ehemaligen Häftling des Konzentrationslagers Auschwitz ausweist. 108 009.

Spätestens in diesem Moment werden wir daran erinnert, dass Israel nicht einfach nur ein Staat unter vielen ist. Herr Blumenfrucht, der in Lodz geboren wurde, dessen Mutter Deutsche und dessen Vater Pole war, die für ihn eine juristische Laufbahn vorgesehen hatten, wurde beim Kriegsausbruch nach Krakow »ausgesiedelt«, wie er es noch immer nennt, und ins Krakauer Ghetto verschleppt. Er hat Auschwitz und die Todesmärsche überlebt. Seine Angehörigen wurden allesamt ermordet.

»Keiner hat gewusst, was mit uns passiert, außer der Herrgott da oben«, sagt er und ist verbittert darüber, dass die Deutschen keinen Widerstand geleistet haben. »Die schwarze Zeit sitzt so tief bei uns. In Deutschland hat das Volk etwas getan, das man nicht einfach so mit der Hand wegwischen kann. Behüte Gott, dass es noch einmal geschehe.« Und er hat sich ein Motto zu Eigen gemacht: »Vergeben schon, aber nicht vergessen. Verzeihen ist leichter als vergessen.«

Die Shoah kann nicht verziehen werden. Herr Blumenfrucht aber ist jemand, der unerschütterlich an das Gute im Menschen glaubt und, wie gesagt, beängstigend optimistisch ist, was die jüngeren Generationen der Deutschen angeht.

Für einen der folgenden Abende lädt er mich zu einem Vortrag über die Lieder des 1942 im Ghetto ermordeten polnisch-jüdischen Arbeiterdichters Mordechaj Gebirtig ein, den er in unserem Hotel halten wird. Auf meinen Hinweis, dass ich gerne käme, aber leider des Jiddischen nicht mächtig sei, lächelt er nachsichtig und lässt den Einwand nicht gelten. »Lieber Freund, mit einem Vortrag ist es wie mit einer Oper. Was zählt, sind die Vokale, die Melodie, die Bewegungen und das Artistische des Redners. Die Ausdrücke der Sprache, die vom Mund des Vortragenden zum Ohr des Zuhörers gelangen, können sehr schön sein und man kann sie auch dann verstehen, wenn man den Vortrag selbst nicht versteht.« So spricht ein Dichter. Wie Recht er hat, der Herr Blumenfrucht. Ich habe seinen Vortrag besucht, und ich habe beinahe alles verstanden. Ohne auch nur ein Wort Jiddisch zu beherrschen. Ich habe ihn verstanden. »Mordechaj Gebirtig ist umgekommen, wie auch meine Brüder, meine Schwester und meine Eltern umgekommen sind, aber seine Lieder leben bis zum heutigen Tag.«