Biancas Schwestern

Deutschlands erste selbst produzierte Telenovela kann auf eine lange und erfolgreiche Tradition in Lateinamerika zurückblicken. von wolf-dieter vogel, mexiko-stadt

Zurzeit läuft alles durcheinander. Niemand weiß, wie es weitergeht. Wird Rubí das Rennen machen? Wird sich der junge Arzt Alejandro doch für sie entscheiden und seiner Maribel den Laufpass geben? Und was passiert dann mit Hector, dem blonden blauäugigen tollen Hecht, mit dem beide einst angebandelt haben?

Für Rubí jedenfalls stehen die Zeichen schlecht. Eltern und Bekannte von Maribel und Alejandro planen schon die Hochzeit. Dabei hat Rubí alles getan, um ihrer Freundin den Liebsten auszuspannen. Wo immer möglich, intrigierte sie gegen das junge Glück. Zuletzt behauptete sie sogar, sie sei von Alejandro schwanger. Doch so genau weiß niemand, was an der Geschichte dran ist, denn der brünetten Schönheit traut man alles zu.

»Rubí ist ein schlechter Mensch, sie gibt einfach nicht auf«, schimpft die Händlerin Esther Martínez. Auch Hausfrau Doña Eugenia Hernández findet, dass sich die junge Frau sehr übel verhält. Maribel dagegen sei eine ausgesprochen feine Person, eine Frau mit sehr edlen Gefühlen. Wie die Sache ausgeht, ist noch unklar. Ganz bestimmt wird Maribel mit dem schönen Alejandro glücklich, und letztlich wird sich auch die Frage klären, von wem Rubí nun eigentlich schwanger ist. Hernández und Martínez müssen sich also keine Sorgen machen.

Die beiden leben in Coyoacán, einem der wenigen wohlhabenderen Viertel von Mexiko-Stadt. Doch auch in armen Kiezen der Metropole und in entlegenen Dörfern der Sierra Madre fiebern Millionen mit, wenn im mexikanischen Flimmerkasten exzessiv geliebt, gehasst oder gelitten wird. Ab 16 Uhr ist Primetime für »Belinda«, »Rubí«, »Las Juanas« oder das »Wilde Herz«. Und zwar bis 22 Uhr. Stunde um Stunde mit einem neuen Drama, fünf Tage die Woche auf den beiden Kanälen Televisa und TV-Azteca.

Seit den fünfziger Jahren kämpfen im lateinamerikanischen Fernsehen arme Aschenputtel um ihre Märchenprinzen. Die Mehrheit der Fans seien Frauen, informiert der mexikanische Marktführer Televisa. Die typische Zuschauerin sei zwischen zwölf und 64 Jahren alt und habe eine geringe Schulbildung. Was aber verbindet meist dunkelhäutige indigene Frauen mit dem Oberschichtambiente, in dem westlich geprägte Weiße die Untiefen von Liebe, Geld und Leidenschaft durchleben?

»Mir gefällt, dass sich alles um die Liebe dreht«, erklärt Haushälterin Marcelina Gomez, die im mexikanischen Armenviertel Ajusco lebt. Gerade in der traditionellen lateinamerikanischen Gesellschaft, in der Familienglück immer noch mit Abstand an erster Stelle steht, verbinde die Sehnsucht nach der romantischen Liebe Telenovela-Zuschauerinnen aller sozialen Schichten, meint die Psychologin Monika Tobón. Für sie liegt es nahe, dass die Serien in der armen Bevölkerung auf besonders große Zustimmung stoßen. »Die Telenovelas bringen den Wunsch zum Ausdruck, von einem Prinzen gerettet zu werden«, sagt die in Mexiko lebende Kolumbianerin. »Jedes der Dramen handelt vom Kampf zweier Frauen um einen Mann. Die, die gewinnt, steigt gesellschaftlich auf. Das ist das Angebot, das vermittelt wird. Und schließlich träumen alle armen Frauen davon, reich zu werden.« Der Telenovela-Produzent Gerardo Zurita vom mexikanischen Medienkonzern TV-Azteca führt den großen Erfolg der Serien auf die traditionelle Machart der Plots zurück. »Wir arbeiten auf der Grundlage des Melodramas. Immer sind Gut und Böse miteinander im Konflikt«, erklärt er der Jungle World.

Wie viele Mexikaner täglich mit den gestylten Schönheiten und ihren Liebhabern leiden? »Mehr als die Hälfte der Bevölkerung« habe ihre Serie »Wahre Liebe« gesehen, behauptet die wohl erfolgreichste Telenovela-Produzentin, Carla Estrada. Das ist zweifellos übertrieben, aber Umfragen bestätigen, dass über ein Viertel der Mexikaner und Mexikanerinnen die Serien verfolgt.

Sicher wird nirgendwo so intensiv intrigiert und geschmachtet wie in den lateinamerikanischen Telenovelas. Doch Liebe, Familie und Leidenschaft spielen auch in US-amerikanischen oder deutschen Seifenopern eine wichtige Rolle. Trotzdem unterscheiden sich ihre Latino-Geschwister grundlegend von »Dallas« oder »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«, meint Produzent Zurita. »In den Seifenopern beginnen Geschichten, enden wieder, flammen von neuem auf, und das kann über sechs, sieben, acht Jahre so gehen. Bei uns nicht. Wenn ein Liebesdrama beendet ist, endet die Geschichte, und es beginnt eine andere, mit anderen Namen, anderen Texten usw.« Dennoch werden regelmäßig alte Geschichten nach vielen Jahren mit neuem Bühnenbild und Background wieder neu aufgekocht. »So arbeiten wir zunehmend umstrittene Themen wie Homosexualität, Drogenhandel oder Korruption in die Plots ein«, sagt Zurita. Bis zu 180 Serienfolgen kann eine Telenovela haben, nach spätestens zehn Monaten ist Schluss.

Für die Produktionsfirmen rechnet sich das Konzept. Jedes Jahr bringt der Marktführer Televisa aus Mexiko-Stadt etwa 20 Telenovelas an den Start. Auch auf dem internationalen Markt beherrscht der Konzern das Geschehen. Von den geschätzten 200 Millionen US-Dollar, die der weltweite Export der Sendereihen einbringt, verbucht Televisa etwa die Hälfte für sich. Den Rest teilen sich andere lateinamerikanische Mediengiganten wie das brasilianische Unternehmen Globo, der mexikanische Konkurrent TV-Azteca und die venezolanische Cisneros-Gruppe.

Die ersten Telenovelas stammen aus Mexiko und Brasilien. Ihre Wurzeln haben sie in den Radionovelas, die in den dreißiger Jahren in den USA produziert wurden. Die ersten Serien fürs Fernsehen gingen in den Fünfzigern auf den Markt. Im selben Jahrzehnt stärkte das »goldene Zeitalter des mexikanischen Kinos« zahlreiche Klischees über den »mexikanischen Macho« und »die leidenschaftliche Mexikanerin«, die bis heute in der konservativen Gesellschaft wirken. Nicht zuletzt deshalb sind mexikanische Telenovelas extrem emotional und sexistisch aufgeladen. Klassengegensätze, Korruption oder Kriminalität spielen zwar unterschwellig eine Rolle, von den teilweise regelrecht sozialkritischen Storys brasilianischer Herkunft sind die meisten Produktionen Mexikos jedoch weit entfernt. Hier bleibt man einem Motto treu, wie es der Titel einer Produktion vorgibt, die 1992 als Exportgut in Russland zu einem Millionenerfolg wurde: »Auch die Reichen weinen.«

Was den Armen gefällt, verfehlt in wohlhabenden Kreisen seine Wirkung nicht. Auch MedizinerInnen, HochschulprofessorInnen oder PolitikerInnen geben sich den Leidenschaften Rubís hin. Die neuesten Entwicklungen werden am Mittagstisch feministischer Projekte ebenso diskutiert wie an Stammtischen akademischer Zirkel. »Klar, von klein auf haben wir zusammen mit den Haushälterinnen die Telenovelas verfolgt«, erinnert sich die Psychologin Tobon und bekommt Zustimmung von ihrer mexikanischen Freundin. Da werden Erinnerungen wach an Liebesdramen, mit denen die halbe lateinamerikanische Frauenwelt aufgewachsen ist.

Ob sich diese Plots so einfach auf die europäische Kundschaft übertragen lassen? Produzent Zurita von TV-Azteca ist skeptisch. »Wir exportieren in 80 Staaten. Die meisten sind so genannte Entwicklungsländer: Malaysia, Türkei, Indonesien, Marokko. Also lauter Staaten, mit denen wir geografische, soziale, wirtschaftliche und oft auch politische Charakteristika teilen«, erklärt er. In diesen Regionen identifiziere man sich viel einfacher mit den Telenovelas, weil beispielsweise ähnliche klimatische Bedingungen ähnliche Formen des familiären Zusammenlebens hervorbrächten. »Der Absatzmarkt ist folglich in Europa viel kleiner als etwa in Asien oder Nordafrika.«

Möglicherweise geht auch Rubí bald auf Weltreise. In Mexiko jedenfalls ist für Maribel und Alejandro die Zeit abgelaufen, und erwartungsgemäß feiert das junge Glück nun Hochzeit. Für Montag ist bereits ein neues Drama angekündigt. »Julia ist der wahren Liebe verpflichtet, Eva kämpft mit der Leidenschaft. Jede hat einen Trumpf in der Hand, um die andere zu besiegen«, heißt es im Werbespot der neuen Telenovela. Rubí muss sich indes keine Sorgen um die Zukunft ihres Kindes machen. Wird eines der Sternchen in der Serie schwanger, trifft im Sendehaus regelmäßig handgestrickte Babykleidung ein.