Lauwarmer Herbst

Nur knapp 10 000 Menschen demonstrierten am vorigen Samstag in Nürnberg gegen die Bundesagentur für Arbeit. Die Stimmung war trotzdem gut. von stefan wirner

Kurz vor zwölf Uhr berichtet das Nürnberger Radio Charivari vom Platz vor der Lorenzkirche. »Das ist eine ganz, ganz große Großdemonstration«, sagt die Radioreporterin. »Es ertönen schon die ersten Pfiffe!« Der Moderator der Auftaktkundgebung hätte sich über diese Fehleinschätzung sicherlich gefreut. Er ruft den Menschen zu: »Von hier oben sieht das sehr gut aus. Es sind Scheiße viele Leute hier!«

Vielleicht rechnet er ja die Passanten, die durch die Fußgängerzone bummeln, ohne etwas zu kaufen, zu den Demonstranten hinzu. Schließlich bringt Hartz IV auch die so genannten Angstsparer hervor, sie sind so gesehen ebenso Betroffene. Aber ganz so optimistisch fällt das Fazit nach der Demonstration nicht aus. 7 000 Menschen zählt die Polizei, die Veranstalter sprechen von knapp 10 000. »Scheiße viele« Polizisten sind da. Das bayerische Sondereinsatzkommando USK führt seine schicken schwarzen Uniformen vor, die an Mussolinis Schlägerbanden erinnern.

Vorbereitet wurde die Demonstration unter dem Motto »Gemeinsam gegen Sozialraub, Agenda 2010 und Hartz IV! Eine andere Welt ist möglich und nötig!« vom Sozialforum Nürnberg. Die Bundesagentur für Arbeit wurde als Ziel ausgewählt, weil sie »die zentrale Instanz zur Umsetzung der so genannten Hartz-Gesetze« sei, wie es im Aufruf des Sozialforums heißt.

Neben verschiedenen Erwerbsloseninitiativen riefen Attac, die Freie ArbeiterInnen Union (FAU), migrantische Gruppen und einige regionale Gewerkschaftsverbände zu der Demonstration auf. Der DGB unterstützte sie nicht. Sein Vorsitzender, Michael Sommer, hat unter die wärmenden Fittiche der Sozialdemokratie, unter die Krallen von Wolfgang Clement und Gerhard Schröder, zurückgefunden. Agenda 2010 hin, Hartz-Gesetze her, Sommer begleitet die Sozialdemokraten wieder im Wahlkampf. Am 29. Oktober trat er auf einer Wahlkampfkundgebung der schleswig-holsteinischen SPD in Lübeck auf.

Mit Verdi sieht es nicht viel besser aus. Der Vorsitzende Frank Bsirske habe ein »Machtwort« gesprochen und erklärt, dass die Demonstration von der Gewerkschaft nicht unterstützt werden könne, beklagt sich das Sozialforum in seinem Aufruf. Überraschen kann Bsirskes Demonstrationsmüdigkeit nicht. Bereits Mitte September glaubte er plötzlich, Hartz IV sogar etwas Positives abringen zu können. Die Reform bringe auch »Verbesserungen« für die Betroffenen, behauptete er. Hunger macht satt, und Armut macht reich.

Dennoch spricht ein Gewerkschafter auf der Kundgebung. Orhan Akman von Verdi München hebt hervor, dass die »Arbeitgeberverbände und ihre politischen Handlanger in Berlin« schuld seien an der »Kälte«. Er versucht, seinen Zuhörern mit anschaulichen Bildern Mut zu machen. »Wenn manche meinen, sie müssten sich nur ducken, damit es sie nicht trifft, dann kriegen sie Rückenschmerzen, und es trifft sie trotzdem«, witzelt er.

Im Gespräch mit der Jungle World verteidigt er Bsirske. Der Bundesvorstand von Verdi habe nicht zu der Demonstration aufgerufen, weil er mit dem Ziel nicht einverstanden gewesen sei. Verdi hatte befürchtet, dass der Protest sich gegen die Beschäftigten der Bundesagentur richten könne. Christian Hartmann von der Presse-AG der Demovorbereitung sagt dazu: »Viele der Beschäftigten sind selbst gegen die Reformen und was man ihnen in der Agentur zumutet. Vielleicht hätten sie mitdemonstriert.« So zeigt sich das Bild, das man bereits von den Protesten am 3. Oktober in Berlin kennt. (Jungle World, 42/04) Einzelne Gewerkschafter nehmen teil, die Führung der Gewerkschaften aber ruft nicht dazu auf, was zur Folge hat, dass weniger Leute kommen.

Die Demonstration in Nürnberg beweist immerhin, dass viele Menschen trotz der Propaganda der Unternehmerverbände und der Bundesregierung und der laschen Haltung der Gewerkschaftsführung sich nicht dem Reformterror ergeben wollen. In einigen Städten wird montags immer noch demonstriert, erfährt man, wenn auch die Teilnehmerzahlen stark zurückgegangen sind. In Kassel etwa gingen vorige Woche 150 Menschen auf die Straße. »Wir sind bunt gemischt«, erzählt ein junger Mann von dort. »Heute demonstriere ich hier, morgen gehe ich zum Gottesdienst.«

Auf dem Spruchband des Arbeitslosentreffpunkts Café Grenzenlos in Aschaffenburg ist zu lesen: »Gegenwehr«. Ein erwerbsloser Lokomotivführer greift zu harschen Worten: »Politiker sind Parasiten. Das Volk wird immer ärmer. Traurig, man schämt sich, dass man ein Deutscher ist.« Wie die Leute vom Erwerbslosenausschuss Südhessen beschwert er sich über die bayerische Polizei, die wieder einmal ihre Vorstellung von Demokratie unter Beweis stellt und Busse mit Demonstranten am Stadtrand abfängt, filzt und anschließend in die Innenstadt eskortiert. Sie könnten sich ja in einem Baumarkt mit Holzlatten versorgen.

Mit drastischeren Problemen schlagen sich die Montagsdemonstranten in Dresden herum. Sie werden die Neonazis nicht los, die inzwischen mit richterlicher Genehmigung an dem Protest teilnehmen dürfen. (Jungle World, 46/04) Eine Vertreterin des Bündnisses gegen Sozialkahlschlag Dresden erzählt der Jungle World, dass Daniel Weigelt, der ehemalige Anmelder der Demos, am Montag voriger Woche vom Dresdner Neonazi Sven Hagendorf angegegriffen worden sei. Hagendorf schlug demnach Weigelt derart auf den Kopf, dass dieser sich am Wochenende einer Operation unterziehen musste.

Die Stimmung auf der Demonstration ist trotz allem gut. In den Reden wird das Gemeinsame betont, man wolle sich nicht in Deutsche und Ausländer spalten lassen, man werde nicht aufgeben. Aber die Beiträge kommen kaum über das Niveau von Parolen wie »Eine andere Welt ist möglich« oder »Wir wollen alles für alle, und zwar umsonst« hinaus. Wie diese »andere Welt« entstehen soll, weiß derzeit niemand. Und »alles für alle«? Dem einen oder anderen Vertreter der Wirtschaft gönnt man erst mal ein Jahr mit strenger Diät.

Es fehlt auch eine Idee, wie an die Leute ranzukommen ist, die von ihren Fenstern aus wohlwollend auf die Demonstration herabblicken, aber nicht mitlaufen wollen. Wie erreicht man trotz der Besänftiger in der Gewerkschaftsführung die Gewerkschafter, die in den Betrieben mit den Auswirkungen rot-grüner Reformlaune konfrontiert sind, mit Lohndrückerei und Angstmache? Sie kommen nur zur Demo, wenn Sommer und Bsirske dazu aufrufen.

Dass »Linksruck« mit seinen Plakaten aus der Massenproduktion fehlt, ist auffallend. Wo sind die eigentlich? Auf einer Kaderschulung?