Räum dein Zimmer auf!

Die Linke steckt in ihrer größten Krise und hat nicht einmal das notwendige Vokabular für eine Perspektivdebatte. Einen Blick ins unaufgeräumte Kinderzimmer der Linken wirft ivo bozic
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Linke Antisemiten, rechte Antikapitalisten, Kommunisten und Nazis für Saddam Hussein, Kameradschaften mit Pali-Tüchern und Che-Guevara-T-Shirts, Linke mit US-Flaggen und Welt-Abo, alle gemeinsam gegen Hartz IV – wer will da noch behaupten, man könne Lechts und Rinks nicht verwechseln? Jedenfalls stößt man schnell an Grenzen, versucht man, aktuelle politische Ereignisse in diesen Schubladen unterzubringen. Wenn Antiimperialisten und Nazis auf der einen und Antideutsche und George W. Bush auf der anderen Seite zuweilen mehr Gemeinsamkeiten haben als die vermeintlich Linken und Rechten untereinander, ist dann alles Querfront, oder was? Schnell werden diejenigen, die solche Überschneidungen zwischen ursprünglich linken und ursprünglich rechten gesellschaftlichen oder politischen Gruppen und Themen feststellen, als Verfechter der Totalitarismustheorie diskreditiert. Doch zum Anhänger dieser Totalitarismustheorie gehört unbedingt der positive Bezug auf die bürgerlich-demokratische, liberale Mitte.

Wer jedoch dieses System ablehnt und sich auf die Suche nach einer Perspektive jenseits dessen begibt, der bzw. die kommt nicht darum herum, Querfronten aufzuzeigen und zu kritisieren. Es ist dabei fast gleichgültig, ob man wie zum Beispiel die antideutsche Zeitschrift Bahamas von dem Links-Rechts-Schema Abschied nimmt und sich auch nicht mehr irgendwo dort zu verorten versucht oder ob man in erster Linie die Schnittpunkte zwischen Links und Rechts, die Querfronten, kritisiert. Es bleibt nur eine Konsequenz – jedenfalls wenn man sich nicht von der Politik und dem Anspruch, gesellschaftlich etwas zu ändern, verabschieden will –, nämlich, sich auf die Suche danach zu machen, was wirklich links ist. Uhhh, wie das klingt! Nach den siebziger, nach den achtziger Jahren, nach Parka und Mao-Bibel.

Nein, das ist zu unsexy. What’s left? Diese Frage scheint keinen mehr zu interessieren. Dabei ist sie nahe liegender und notwendiger als je zuvor. Stattdessen jedoch ist zu beobachten, dass plötzlich wieder vermehrt von Emanzipation die Rede ist. Bei der Frage nach Krieg und Frieden im Irak wurde nicht selten diskutiert, ob der Sturz des Regimes »emanzipatorische« Entwicklungen bringen werde. »Links« ist weder die Unterstützung der Ba’athisten noch die Unterstützung eines Angriffskrieges. Kann das eine oder das andere dann trotzdem »emanzipatorischen Gehalt« haben? Geht es um die Frage Zivilisation oder Barbarei, Fanta oder Fatwa? Und ist Zivilisation Ergebnis oder Ausgangspunkt der Emanzipation, oder hat das eine mit dem anderen nichts zu tun?

Die Frage danach, wie emanzipatorisch eine Befreiungsbewegung ist, stellt gleichsam die Frage nach dem Ausmaß der ihr zustehenden Solidarität. Sie dient auch zur Kritik ihrer Gegner. Zu Recht kann behauptet werden, wer den irakischen Widerstand, bestehend aus faschistischen Ba’athisten und islamistischen Fundamentalisten, unterstützt, der dient einer antiemanzipatorischen Bewegung. Auf der anderen Seite wird jedoch auch den Gegnern dieses Terrorismus vorgeworfen, antiemanzipatorisch zu sein, weil man sich gegen die Selbstbestimmung des irakischen Volkes ausspreche und die kapitalistische Versklavung durch die USA befürworte.

Die Bahamas kritisiert linke Selbstverständlichkeiten, wenn sie fragt: »Warum ist vegane Ernährung emanzipatorisch und freiwillige Selbstausbeutung der entscheidende Schritt aus den Fesseln der Arbeit?« Doch auf der anderen Seite ist man als Verteidiger der »westlichen Zivilisation« auch nicht emanzipatorischer als Helmut Kohl, Pfarrer Fliege oder Thomas Gottschalk. Hiermit soll nur gesagt werden, dass der Begriff uns in der Frage nach Perspektiven linker Politik so erst einmal nicht weiterhilft.

Also noch einmal von vorne. Was ist das, Emanzipation? Das Lexikon sagt: »Emanzipation (lat. eigtl. »Freilassung«), die Befreiung von Individuen oder sozialen Gruppen aus rechtl., polit.-sozialer, geistiger oder psych. Abhängigkeit bei ihrer gleichzeitigen Erlangung von Mündigkeit und Selbstbestimmung; wichtigstes polit. Ziel der Demokratie.« (Meyers) Das Synonymwörterbuch von Microsoft Word bietet zudem die Begriffe »Unabhängigkeit«, »Selbstständigkeit« und »Gleichberechtigung« an. Klingt alles nicht schlecht. Wie der Grundwortschatz einer Präambel jeder linken Politik. Doch gerade weil diese Definitionen so bequem sind, heftet sich jede und jeder solche Etiketten ans Revers.

Mit dem Wort Emanzipation dürfte hierzulande vor allem die Frauenbewegung assoziiert werden. Feministinnen haben das Wort zu einem zentralen Kampfbegriff für die Gleichberechtigung der Geschlechter gemacht. Doch seit es in der feministischen Bewegung kaum noch um Gleichstellung geht, sondern um Gender und Geschlechterkonstruktion, verliert der Begriff in diesen Zusammenhängen an Bedeutung. Auch in der Pädagogik und Sozialwissenschaft spielte der Begriff der Emanzipation eine wichtige Rolle.

Die alles andere als bürgerliche Rote Armee Fraktion (RAF) bemühte den Begriff bei der Suche nach politischen Perspektiven: Alles müsse getan werden, schrieb sie in ihrer Auflösungserklärung vom März 1998, »was sinnvoll und möglich ist, damit eine Welt jenseits des Kapitalismus entstehen kann, in der die Emanzipation der Menschheit Wirklichkeit werden kann«. Hier erfahren wir immerhin, und jetzt beginnt erst die linkstheoretische Einordnung, dass die Überwindung des Kapitalismus in den Augen der RAF nicht identisch ist mit der Emanzipation der Menschheit, sondern nur die Grundlage dafür bietet.

Die RAF weiter: »Aus den antiemanzipatorischen Erfahrungen mit den autoritären und staatsbürokratischen Konzepten des Realsozialismus sind die Konsequenzen für die zukünftigen Wege der Befreiung noch zu ziehen.« Die RAF unterscheidet zwischen den äußeren Bedingungen und den inneren Möglichkeiten: »Das ist ein notwendiges Moment des Befreiungsprozesses, denn nicht nur die Verhältnisse sind reaktionär, sondern die Verhältnisse produzieren das Reaktionäre in den Menschen, das ihre Fähigkeit zur Befreiung immer wieder neu unterdrückt. Ohne Zweifel ist es existenziell, Rassismus und jeglicher Form von Unterdrückung entschieden entgegenzutreten und sie zu bekämpfen. Befreiungsentwürfe der Zukunft werden sich aber auch daran messen lassen müssen, einen Schlüssel zu dem reaktionär eingeschlossenen Bewusstsein zu finden und das Bedürfnis nach Emanzipation und Befreiung zu wecken.« Nicht das Sein allein bestimmt das Bewusstsein, das ist sicher richtig, aber was dann? Ein gutes Argument? Oder liegen wir hier schon bei Freud auf dem Sofa? Sollten wir das?

In der klassischen Linken wird die Ökonomie gern als Hauptwiderspruch bezeichnet, andere Unterdrückungsverhältnisse wie etwa Herrschaft und Macht, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus als davon abhängige Nebenwidersprüche. Sind diese Nebenwidersprüche nach erfolgreich gewonnenem Klassenkampf auf emanzipatorischem Wege zu beseitigen? Oder sind das gar keine Neben-, sondern ebenfalls Hauptwidersprüche? Ist das jetzt der autonome Triple-Oppression-Ansatz, oder sind wir da komplett auf der bürgerlichen Seite angekommen? Klassenkampf versus Emanzipation? Kommunisten haben den Anarchisten das schon immer vorgeworfen. Ist, wer die Emanzipation nicht als zwangsläufige Konsequenz der Vergesellschaftung ansieht, Teil der bürgerlichen Emanzipationsbewegung? Wird er Bürgerinitiativen gründen, die Kinder hierarchiefrei erziehen, kein Fleisch mehr essen, gegen Nazis demonstrieren und illegale Flüchtlinge bei sich aufnehmen? Und ist diese bürgerliche Politik tatsächlich weniger links als eine Haltung von Leuten, die alles auf die Überwindung des Kapitalismus setzen und bis dahin, gepolstert mit Sprüchen wie »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«, die Konsumkasper und Funktionierer machen?

»Nichts ist schlimmer als das Kapital«, schrieb Franz Schandl im Dezember in der jungen Welt. Nicht der al-Qaida-Terror? Nicht der Holocaust? Sein alter Weggefährte Werner Pirker lehnte einst mit dieser Begründung Antifaschismus ab. Der einzig echte Antifaschismus sei der Antikapitalismus. Alles andere sei nur die Verteidigung der bürgerlichen Gesellschaft.

Und in der Tat: Macht sich eine Emanzipationsbewegung, die heute, innerhalb dieses Systems für bestimmte Freiheiten eintritt, nicht automatisch zum Verwalter des Systems, zum Arzt am Krankenbett des Kapitalismus? Aber selbst wenn: Kann es nicht sein, dass Schandl nicht nur Unrecht hat, sondern dass zumindest partiell das Gegenteil zutrifft? Dass das Kapital hierzulande kein Interesse an Rassismus hat, sondern an neoliberaler, globaler Wirtschaftsfreiheit, und deshalb mehr Geld und Kraft in die Bekämpfung von Faschismus steckt als etwa ein Herr Pirker, der die ba’athistischen Faschisten im Irak mit Spenden unterstützt? Und müsste man nicht zu dem Schluss kommen: Nichts ist schlimmer als der Holocaust! Ist es nicht scheißegal, ob es bürgerlich oder reformistisch ist, Flüchtlingen Schutz zu gewähren, sich gegen Antisemitismus zu engagieren, Nazidemonstrationen zu verhindern, weil das, was uns droht, noch viel schlimmer ist? Oder ist das die bürgerliche Volksfront gegen einen Faschismus, der mehr Projektion als reale Bedrohung ist?

So oder so. Perspektiven für linke Politik öffnen sich bei dieser Betrachtung des Emanzipationsbegriffs noch nicht. Aber ohne über Freiheit zu reden, über Befreiung, ohne über Emanzipation zu reden, ergibt es keinen Sinn, linke Perspektiven zu diskutieren. Ein Zurück zum Stalinismus darf es nicht geben. Humanismus, Aufklärung, Idealismus haben dazu geführt, dass das Schicksal des Menschen, die Verhältnisse, in denen er lebt, auf den Menschen selbst zurückgeführt werden können. Marx hat erkannt, dass die ökonomische Entwicklung und der soziale Stand der Menschen entscheidend zu diesem Prozess beigetragen haben und der Kampf um die soziale Gleichberechtigung auch nach Vollendung des bürgerlichen Projekts fortgesetzt werden muss, um zu wirklicher Freiheit zu gelangen. Nur welche Freiheit? Vielleicht ist ja auch das die eigentliche Frage.