Schreckhaftes Aufwachen

Von Ermittlungserfolgen, Brandanschlägen und der Sehnsucht nach Ruhe. Die niederländische Woche nach dem Mord an Theo van Gogh. von udo van lengen

Man darf nicht alle Marokkaner unter Generalverdacht stellen«, meint Bram de Groot, ein Student aus Amsterdam. Es sei an der Zeit, gegen die Gewaltspirale in den Niederlanden aufzustehen und zur Besinnung aufzurufen, erklärt er. Man müsse endlich aus der kollektiven Ohnmacht aufwachen. Kaum eine Woche nachdem der Jihad in den Niederlanden begonnen hat – so stuft zumindest das Kabinett den Mord an Theo van Gogh ein –, überlegen de Groot und andere Studenten, zu Friedensdemonstrationen aufzurufen.

Blieb es unmittelbar nach dem Mord an dem Filmemacher Theo van Gogh relativ ruhig, so wütete während der vergangenen Woche die politische Gewalt in den Niederlanden umso heftiger. Mehr als 20 muslimische Einrichtungen sowie ein halbes Dutzend Kirchen wurden angegriffen. Auf der Tätersuche tappt die Polizei weitgehend im Dunkeln. Ein Mann konnte verhaftet werden, der sich mit einem Molotow-Cocktail auf den Weg zur Moschee in Ijsselstein bei Utrecht gemacht hatte. Vor allem in den kleinen Städten im Osten der Niederlande ist das Entsetzen über das Ausmaß der Gewalt groß. In Uden, einem Städtchen in der Provinz Brabant, brannte die muslimische Grundschule nieder. Nun fragt man sich dort: Was haben die Schulkinder aus Uden mit dem Mord an Theo van Gogh in Amsterdam zu tun? »Wir gehen hier doch wirklich tolerant miteinander um«, gibt der Udener Leo Scheenen gegenüber der Tageszeitung Volkskrant seinen Unmut zu Protokoll. »Wenn es einen Ort gibt, wo die Integration erfolgreich war, dann ist es Uden«, meint ein anderer Einwohner.

Unterdessen präsentieren die Ermittler täglich neue Details aus dem Umfeld des mutmaßlichen Mörders Mohammed B. Am Mittwoch vergangener Woche wurden in einer landesweiten Polizeiaktion sieben mutmaßliche Terroristen verhaftet. In Den Haag kam es dabei zu schweren Schießereien mit der Polizei. Vier Beamte und einer der Gesuchten wurden dabei verletzt. Die Verdächtigen sollen Mitglied der Hofstadgroep sein, einer Gruppe um den seit Juni inhaftierten 18jährigen Samir A. Ihnen wird vorgeworfen, Anschläge auf Politiker geplant zu haben, darunter die Abgeordnete Hirsli Ali, die auch die Drehbuchautorin von Theo van Goghs islamkritischem Film ist.

Mittlerweile gehen die Ermittler davon aus, dass in den Niederlanden etwa 1000 Muslimfundamentalisten leben und Verbindungen zu internationalen Netzwerken unterhalten. Die Gruppe, zu der Mohammed B. gehört, soll Kontakt zu einer spanischen Gruppe namens »Märtyrer für Marokko« gehabt haben, die u.a. einen Anschlag auf den nationalen spanischen Gerichtshof plante. Als wichtigstes Mitglied gilt der Ende August in der Schweiz verhaftete Mohammed Achraf. Er soll die niederländische Hofstadgroep finanziell unterstützt und aus dem Schweizer Gefängnis mit Mohammed B. telefoniert haben, so die Ermittler.

Dass die Hofstadgroep und ihre internationalen Verbindungen erst jetzt zum Thema werden, beschäftigt nun das Parlament in Den Haag. Was wusste der niederländische Geheimdienst vor dem Mord an van Gogh, fragen viele Parlamentarier nicht nur der Opposition. Innenminister Johan Remkes wurde vom Fraktionschef seiner eigenen rechtsliberalen Partei das Vertrauen entzogen. Ministerpräsident Jan-Peter Balkenende widersprach der Rücktrittsforderung. In Krisenzeiten wie diesen brauche man Ruhe im Kabinett, so Balkenende. Eine Regierungskrise würde die Unsicherheit im Lande nur vergrößern.

Für viele Marokkaner ist sie bereits so groß, dass sie sich in den Niederlanden nicht mehr sicher fühlen. Sie haben den Eindruck, dass alle Marokkaner als kriminell angesehen werden. Einige marokkanische Familien überlegen sogar, die Niederlande zu verlassen. Die gegenwärtige Eskalation kennt keine Gewinner, nur jede Menge Verlierer.