Die Soap-Flut

Noch nie haben die deutschen Fernsehsender den Markt mit derartig vielen Reality-Formaten penetriert wie in diesem Jahr. von martin schwarz

Kader Loth ist verletzt. Seelisch. Nachdem das Model unbekannten Alters in der ProSieben-Show »Die Alm« zur alpinen Königin gewählt wurde, begann ihr wohl zu dämmern, dass Güllebad und Zickenkrieg nicht unbedingt dazu beigetragen haben, die Menschen im Tal auf Distanz zu halten: Sowohl Frauen als auch Männer würden sie ständig ansprechen, allerdings würden einige der ungekrönten und wohl auch nicht operierten Normalverbraucher Witze über sie und ihren Körper machen.

Dabei hatte das Elend eigentlich schon auf der »Alm« begonnen, denn da sinnierten die Mitstreiter Kader Loths des öfteren über die chirurgischen Eingriffe zur Verlangsamung des natürlichen Alterungsprozesses. Und an einem launigen Abend fragte einer der anderen der C-Prominenten Kader nach ihrem Alter. »Ich bin 28 Jahre alt«, antwortete sie. »So? Wie lange schon?« meinte dann einer.

Das sind die pseudolustigen Gemeinheiten, die Formate wie »Die Alm« erfolgreich machen: Einige nicht mehr wirklich Prominente werden in eine scheinbare Extremsituation gepackt, und der Zuschauer weidet sich am persönlichen Niedergang derer, die ihre besten und im Falle Loths faltenlosen Zeiten schon lange hinter sich haben.

Würden echte Stars wie Günther Jauch oder Harald Schmidt sich auf »die Alm« oder ins »Dschungelcamp« begeben haben, der Erfolg wäre wohl nicht so fulminant gewesen – und das mediale Gewitter rund um die hochalpine Promi-Entblößung auch nicht: Als Tatjana Gsell, bekannt lediglich durch die seltsamen Todesumstände ihres Mannes, die Alm erklomm, hyperventilierte die stets den Kern der Sache lokalisierende Bild, jetzt würde auf der Alm der »Körbchenkrieg« ausbrechen zwischen den beiden Chirurgengeschöpfen Gsell und Kader. Es hat was genützt: Beinahe täglich war Pro Sieben mit der »Alm« Marktanteilsführer. Gar um eine Woche verlängert wurde letztlich die Show.

Wegen der grandiosen Marktanteile möchte Pro Sieben nun aus der »Alm« die »Burg« kreieren. In Niederösterreich wird gerade ein entsprechendes Gebäude zurechtgestylt, ab 23. Januar sollen sich dort weitere Prominente endgültig zu Lachnummern machen. Im Gegensatz zur »Alm« ist Pro Sieben mit dem Burg-Format nun tatsächlich zum Erfolg verdammt. Die Produktionskosten dürften schon alleine wegen der notwendigen Modifizierungen am alten Gemäuer wesentlich höher liegen als beim Almspektakel. Mindestens 17 bis 18 Prozent Marktanteil erhoffen sich die ProSieben-Strategen von der Show. Die wird übrigens noch um einiges schärfer und für die Prominenten härter als das Bauerndasein jenseits der Baumgrenze. Diesmal soll es – ähnlich dem Big Brother-Format – mehrere Gruppen geben, die exakt die hierarchischen Gegebenheiten des Mittelalters widerspiegeln sollen: Eine Gruppe soll es geben, die, unterprivilegiert und jeglichen Luxus beraubt, den »Pöbel« mimen muss, und eine Gruppe, die sich als »Adel« geriert. Duelle werden entscheiden, welcher der untergehenden Prominenten in welchen Bereich einziehen darf.

Ähnlich anziehend war auch das Konzept von »Ich bin ein Star, holt mich hier raus«. Extremsituation Dschungel. Belegschaft semiprominent. Die Berliner Großschnauze Désirée Nick gab die verbale Amokläuferin, die sich strategisch klug besonders an Dolly Buster rieb. Beide haben jetzt etwas vom Dschungelmassaker: Sowohl Nick als auch Buster werden von Talkshow zu Talkshow gereicht, um die jeweils andere mit Spott und Hohn zu überschüttem. Marketing? Vielleicht.

Vollkommen entzaubert wurden dagegen andere Teilnehmer im kalkulierten Dschungelabenteuer: Carsten Spengemann bewegte sich kaum von seiner Liege und döste dem Ende der Show entgegen, eigentlich ein sympathischer Gegensatz zum stets lächelnden und irgendwie unnatürlich aufgeregten Moderationsstil des »Deutschland sucht den Superstar«-Fossils.

Die Quälerei rasant in die Bedeutungslosigkeit driftender Ex-Prominenter ist die eine Kategorie jener Reality-Shows, die im Jahr 2004 offensichtlich funktionierten. Die andere sind Shows, die noch richtig unbekannte Kandidaten nach dem Vorbild des amerikanischen »Crash Car TV« in echte Extremsituationen locken. »The Swan«, das Silikonimplementierungs- und Nasenzertrümmerungsspektakel mit Verona Pooth, ist dafür wohl das extremste Beispiel. Völlig gewöhnliche Frauen werden in einem wochenlangen Operationsmarathon zu Geschöpfen von Chirurgen, Fitnesstrainern und Psychologen umgemodelt. Schon die erste Folge sahen immerhin 2,13 Millionen Zuseher, wiewohl nach Umfragen eine Mehrheit der Deutschen gegen die kameraintensive Menschenmetzgerei eingestellt ist. Bei »The Swan« nämlich wird auch dort die Kamera nicht abgeschaltet, wo Nervenzusammenbrüche stattfinden. Eine der Kandidatinnen erfuhr während der Show vom Tod zweier naher Verwandter, Pro Sieben überzeugte die junge Frau nach einer kurzen Pause dennoch, wieder ins Camp zurückzukehren. In ständigem psychischen Ausnahmezustand gehalten – im Camp gibt es keine Spiegel –, ist der Höhepunkt jeder Folge zweifellos, wenn die Kandidatin verpackt in Abendkleid und tonnenweise Schminke vor einen verhüllten Spiegel tritt – freilich unter scharfer Beobachtung von Verona Pooth. Minutenlang dauert es zuweilen, bis dann die Kandidatin mit den magischen Worten »Ich bin bereit« den Vorhang lüften lässt und zum ersten Mal ihr Spiegelbild betrachtet. »Das kann nicht sein« oder »Das bin wirklich ich?« sind die üblichen Reaktionen, Tränenausbrüche und verschärftes Zittern gehören auch dazu. Eingeblendet wird an dieser Stelle auch gerne die »Vorher-Nachher«-Bildreihe, die der Konsument auch von den Inseraten seltsamer Diätpräparate in diversen Zeitschriften kennt.

Mindestens ebenso echtes Leben führte uns RTL mit der »Supernanny« vor, denn auch hier wird das ganze Elend im Deutschland des Jahres 2004 videodokumentiert. Meist alleinerziehende Mütter werden von der äußerst adretten und stets einen Minirock tragenden Supernanny mit Erziehungstipps versorgt, die ihre vollkommen verhaltensgestörten Kinder zu echten Wonneproppen mutieren lassen. Einen Sendeplatz in der Prime Time hat sich die »Supernanny« mittlerweile erobert, RTL engagiert wegen des großen Erfolges nun auch eine zweite Kompetenzträgerin.

Geschwächelt dagegen haben jene Formate, die weder Prominente in Extremsituationen noch das gewöhnliche Hartz IV-Opfer in seiner alltäglichen Verzweiflung ob der Widrigkeiten des Lebens gezeigt haben. Die »Bachelorette« etwa, die zu Beginn der Sendung wohl mehr Verehrer in ihrer Villa an der Cote d’Azur hatte als Zuschauer vor den Fernsehapparaten. Oder die kürzeste Reality-Soap, die das deutsche Fernsehen wohl jemals geliefert hatte: »Hire or Fire«, jene Sendung, die von Pro Sieben »nach reiflicher Überlegung« und einem Auftakt mit ernüchternden sechs Prozent Marktanteil schon 24 Stunden nach Beginn wieder eingestellt wurde. Dabei war der Plot so klasse, dass er in den USA funktioniert hatte: Dort suchte der New Yorker Immobilienmagnat und Frauenverkoster Donald Trump einen jungen Wunderfuzzi, der in seinem Betrieb für eine millionenschwere Jahresgage arbeiten sollte. In Deutschland war es Fernsehproduzent John de Mol, der dem Gewinner der Show einen Job als »Creative Director« in seinem Unternehmen für ein Jahresgehalt von 300 000 Euro versprach. »Vielleicht war die Aussicht auf einen Job mit einem Gehalt von 300 000 Euro zu unrealistisch«, sagt ProSieben-Sprecher Nico Wirtz. Ja. Daran könnte es gelegen haben. Noch immer funktionieren dagegen die Reiner-Calmund-Festspiele auf RTL. Calmund mimt dabei den »Big Boss«, der entschlossenen Yuppies Management beibringt, als sei Betriebswirtschaft die Fortsetzung eines Fußball-Trainingslagers mit anderen Mitteln. Die Kandidaten müssen dabei Kaffee verkaufen oder im Wiener Prater einen Tag lang Attraktionen managen. Irgendwie eine seltsame Vorbereitung auf den weiteren Lebensweg der Manageraspiranten, denn dem Gewinner winken 250 000 Euro Startprämie für die Gründung eines eigenen Unternehmens.

Es war wirklich ein seltsames Fernsehjahr zwischen Kaderschmiede und Jobshow.