Leseratten starten durch

Der Pisa-Studie zufolge sind die finnischen Schüler Spitze. Eine Untersuchung der Universität Jyväskylä analysiert die Ursachen. von bernd parusel, stockholm

Wir haben gute Lehrer und in Ausbildung wird viel investiert«, sagte eine Pädagogin aus Helsinki der Zeitung Hufvudstadsbladet. »Arme Länder können sich so etwas ja nicht leisten.« Nicht nur im Ausland, auch in Finnland sucht man zurzeit wieder nach Erklärungen für das ausgezeichnete Abschneiden des Landes bei der gerade veröffentlichten Pisa-Studie.

Aber ist Deutschland denn nun schon in die Liga der Armen abgestiegen, oder warum sind die Ergebnisse der Schüler hier so viel schlechter als in Europas Norden? Ist es eine Frage des Geldes? Nach der letzten Studie des »Programme for International Student Assessment« (Pisa) der OECD liegt Finnland unter den europäischen Ländern in allen Bereichen an der Spitze, sowohl beim Leseverständnis als auch in den Naturwissenschaften und der Mathematik.

Im Nachbarland Schweden, wo man einen passablen zehnten Platz in Mathe, einen neunten in den Naturwissenschaften und einen fünften beim Lesen erzielte, blickt man nicht ohne Neid auf die noch besseren finnischen Schüler, kann sich deren Erfolge aber nicht recht erklären.

Die Schulsysteme der beiden Länder sind sehr ähnlich. Im Alter von sechs oder sieben Jahren werden schwedische und finnische Kinder eingeschult und besuchen dann neun Jahre lang die Grundschule. Danach wechseln sie auf das Gymnasium, das drei Jahre dauert, oder auf eine Berufsschule. Die Lehrpläne sind in beiden Ländern sehr flexibel. Nur wenige Lernziele sind vorgegeben. Wie der einzelne Pädagoge sie seinen Schülern vermittelt und mit welchen inhaltlichen Schwerpunkten, ist ihm selbst überlassen.

Auf der Suche nach Erklärungen veröffentlichte Professor Jouni Välijärvi, Leiter des finnischen Teils der Pisa-Studie, zusammen mit Forschern der Universität Jyväskylä im vergangenen Jahr die Abhandlung »Die finnischen Erfolge bei Pisa – einige Ursachen«. Das Papier fußt auf Material der Pisa-Runde des Jahres 2000, liefert aber noch heute gültige Erkenntnisse. »Auf eine ganze Reihe inländischer Faktoren« sei das gute Abschneiden der Finnen zurückzuführen, heißt es in dem Papier. Besonders fällt auf, dass die finnischen 15jährigen viel lesen, dass Mathematik und Naturwissenschaften sehr alltags- und praxisnah unterrichtet werden und dass in finnischen Schulen ein hohes Maß an sozialer Gleichheit herrscht.

Dass ganze 41 Prozent der finnischen Schüler Lesen als eine ihrer »Lieblingsfreizeitbeschäftigungen« bezeichnen und fast jeder zweite pro Monat mindestens ein Buch aus einer Bibliothek ausleiht, trägt sicher zu ihren ausgezeichneten Resultaten in der Pisa-Sparte »Leseverständnis« bei. Im Durchschnitt der an der Studie teilnehmenden OECD-Länder besucht nur jeder vierte derart regelmäßig eine Bibliothek, und in Deutschland und Belgien geben 42 Prozent der Schüler an, nicht nur keine Bücher auszuleihen, sondern überhaupt nicht zu lesen.

Das gute Abschneiden der Finnen in Mathematik ist dagegen mit Vorsicht zu genießen. Die beim Pisa-Test gestellten Aufgaben wirken mitunter wie auf die schwedischen und finnischen Schüler zugeschnitten, während deutsche sie oft merkwürdig finden. Viele wären vielleicht in der Lage, eine Gleichung zu lösen oder eine Kurve zu zeichnen, haben jedoch wenig Erfahrungen mit den von Pisa bevorzugten Text- und Problemlösungsaufgaben, die in Finnland oder Schweden gängige Unterrichtsmittel sind.

Finnland hat in seinen anwendungsbezogenen und wenig abstrakten Mathematikunterricht viel investiert. Über das so genannte Luma-Programm, eine Abkürzung für »Naturwissenschaft und Mathematik«, versorgte die Regierung die Schulen des Landes in den vergangenen Jahren mit modernen Computern und Laborausrüstungen für die naturwissenschaftlichen Fächer, alles mit dem Ziel, Alltagsnähe zu erreichen und selbstständiges Arbeiten und Experimentieren der Schüler zu fördern. Jungen wie Mädchen tun sich in dem Land übrigens gleichermaßen leicht mit mathematischen Fragen. Auch die Gewichtung der anderen naturwissenschaftlichen Fächer in der finnischen Schule spielt eine wichtige Rolle. Während Biologie, »Umwelterziehung« und Geographie, die als Naturwissenschaft gilt, dort drei Viertel der Zeit im naturwissenschaftlichen Unterricht einnehmen, ist für die in Deutschland so wichtigen Fächer Physik und Chemie viel weniger Raum vorgesehen. Ähnlich ist das Verhältnis auch bei den Pisa-Fragen.

Was im internationalen Vergleich indes besonders auffällt, ist die Ausgeglichenheit des finnischen Schulwesens. Die Leistungen der Schüler sind in den unterschiedlichen Regionen annähernd gleich, ebenso in der Stadt und auf dem Land. Auch die soziale Herkunft der Schüler wirkt sich bei weitem nicht so deutlich auf ihre schulischen Erfolge aus, wie es anderswo, etwa in Deutschland, der Fall ist. In den nordischen Ländern gebe es eine lange bildungspolitische Tradition, sowohl für ein insgesamt hohes Wissensniveau zu sorgen als auch Leistungsunterschiede zwischen den Schülern auszugleichen, heißt es in der Studie der Jyväskyläer Universität. Entsprechend weist Pisa aus, dass die Kluft zwischen stärkeren und schwächeren Schülern in Finnland auffallend klein ist.

Eine besondere Förderung begabter Schüler, wie sie in Deutschland immer wieder von konservativen Bildungspolitikern gefordert wird, findet nicht statt. Wohl aber wird viel Wert auf die Förderung von Schülern mit Lese-, Schreib- oder Rechenschwierigkeiten gelegt. Meist besuchen sie die reguläre Grundschule, erhalten dort aber in Kleingruppen zusätzlichen Förderunterricht. Für Kinder, deren Muttersprache nicht finnisch ist, gibt es spezielle Sprachförderkurse. Zudem sind Sprachkurse für Migranten obligatorisch.

Einige plausible Erklärungen für die Spitzenplatzierung der Finnen mag es also geben. Vieles bleibt jedoch Spekulation. Ist es in einem Land mit nur fünf Millionen Einwohnern leichter, ein gerechtes und einheitliches Schulsystem zu schaffen, das auch schwachen Schülern gute Entwicklungsmöglichkeiten bietet, als in einem Land mit 80 Millionen? Warum gehen 15jährige Finnen in die Bibliothek, während sich ihre schwedischen Altersgenossen häufig die Nächte mit Computerspielen um die Ohren schlagen? Warum wollen in Finnland derart viele Jugendliche Lehrer werden, dass sich die Schulen die besten herauspicken können, während anderswo Pädagogen gesucht werden?

Trotz der Pisa-Erfolge überwiegt in Finnland die Bescheidenheit. Es drängt sich sogar der Eindruck auf, dass vielen die Bewunderung aus dem schlechter dastehenden Ausland gar nicht recht ist. Eine finnische Lehrergewerkschaft sprach bereits von der Gefahr, dass die Bildungspolitiker des Landes nun dazu neigen könnten, die Weiterentwicklung der Pädagogik und das Experiment mit neuen Unterrichtskonzepten zu vernachlässigen und die Schüler stattdessen nur noch auf typische Pisa-Fragen zu trimmen. Schließlich wäre es angesichts der gegenwärtigen Erfolge eine besondere Blamage, in einer kommenden Studie plötzlich schlechter abzuschneiden.