Scherz, Terror und tiefere Bedeutung

Juan Goytisolo kritisiert in »Gläserne Grenzen« die Festung Europa und Israel. von winfried rust

Der spanisch-marokkanische Essayist Juan Goytisolo hat für seine unter dem Titel »Gläserne Grenzen« im Suhrkamp Verlag erschienenen Aufsätze die Position eines Kosmopoliten gewählt, der einfordert, »dass Kultur heute nicht ausschließlich französisch, englisch, deutsch, nicht einmal europäisch sein kann, sondern vielfältig, mestizisch und eklektisch« – sonst drohe »kulturelle Rückständigkeit«. Das Buch enthält Aufsätze zu drei Themen: der Islam und der Westen, Einwanderung in die Festung Europa und Fragen der Globalisierung. In Anlehnung an Edward Saids Buch »Orientalismus« weist Goytisolo auf die besondere Widersprüchlichkeit des europäischen Verhältnisses zur arabischen Welt hin. Einerseits hat Europa viele kulturelle Wurzeln im Orient, andererseits heißt es seit Jahrhunderten, der Islam gefährde Europa. Dieses Bedrohungsszenario ist für den Autor angesichts der realen »bestehenden Ungleichheiten zwischen Nord und Süd«, die den einzigen materiellen Gehalt für Gefahr bergen würden, jedoch nichts weiter als »ein geschmackloser Scherz«.

Dann wechselt Goytisolo zu den Bildern von ertrunkenen Bootsflüchtlingen im Mittelmeer und fragt mit der Stimme eines albanischen Abschiebehäftlings nach den Relationen: »Im Fernsehen habe ich gesehen, dass sie ihre Katzen mit Silberlöffeln füttern. Warum behandeln sie uns dann so?« Goytisolo sieht »ganz Europa heute im Zeichen einer Rhetorik der Ausgrenzung«. Er plädiert dagegen für eine offene Migration, eine Forderung, die er nicht nur humanitär begründet, sondern der auch der Wunsch zugrunde liegt, anstatt in einem »Reservat fanatischer Europa-Anhänger« in einer »modernen Welt« zu leben, die »offen für die kulturelle Dynamik und Vielfalt« ist.

Ein Intellektueller, der ohne Doppelmoral auf die Opfer blickt? In seinen Essays zum israelisch-palästinensischen Konflikt legt er dann doch doppelte Standards an: Die Palästinenser sind Opfer, die Israelis Täter. Kaum ein Wort vom Antisemitismus in der Region oder von der Desintegrationspolitik der arabischen Staaten gegenüber der palästinensischen Bevölkerung. Goytisolo akzeptiert zwar, dass die Gründung des Staates Israel nicht zu trennen ist von der Geschichte der Judenverfolgung und des Holocaust. Doch angesichts von Bildern palästinensischer Flüchtlinge fragt er: »Wie konnte es zu dieser historischen Umkehrung kommen? Kraft welcher Moral oder Logik hat sich das verfolgte Volk zum Verfolger gewandelt?« Das ist Geschichtsrelativismus von links. »Verfolgung« wird nivelliert, es ist ein und dasselbe, was den Juden und den Palästinensern geschah – es ist nur »umgekehrt«. Goytisolo relativiert weiter: »Man fügt anderen zu, was man selbst erlitten und wogegen man sich aufgelehnt hat.« Allerdings erläutert er nicht, worin genau die Ähnlichkeit und Vergleichbarkeit besteht. Stattdessen fragt sich Goytisolo, wie es zu bewerten ist, dass sich die arabischen Nachbarländer in der Palästinenserproblematik weitgehend passiv verhalten. Seine Antwort: Die arabischen Staaten führten doch eher gegeneinander Krieg, als »zur Verteidigung ihrer Brüder zu den Waffen greifen«. Auch das toppt Goytisolo noch einmal und hält dem israelischen Staat sein »Bismarcksches Modell« vor, dessen Essenz und dessen Mittel unter anderem die »Theorie vom ›Lebensraum‹« sei. Und weil es so schön war, noch einmal: Die »Palästinenser von heute sind die neuen Juden einer arabischen Welt.«

Seine Argumentation erinnert fatal an Ted Honderichs Buch »Nach dem Terror«, das der Suhrkamp Verlag vor einem Jahr wegen seiner antisemitischen Einfärbung aus dem Programm nehmen musste. Mit der inkriminierten Stelle aus der Feder Honderichs, dass »die Palästinenser mit ihrem Terror gegen die Israelis ein moralisches Recht ausgeübt haben«, kann Goytisolo gut mithalten. Beide Autoren kämpfen, glauben sie, für die Dritte Welt und gegen die Erste. Das Weltbild ist von Schwarz-Weiß-Denken geprägt; Repression, Gewalt und Terror werden hartnäckig ignoriert oder als Gegenwehr legitimiert, wenn sie von »unten« ausgeübt werden.

Der dritte Teil von Goytisolos Buch, der vom »gefräßigen Kapitalismus« handelt, enthält nicht einmal ansatzweise eine Analyse kapitalistischer Vergesellschaftung. Diese scheint aus kultureller Ignoranz und dem größeren Reichtum des Westens zu bestehen. Terror und Unterdrückung aus der arabischen Welt werden beschwiegen, oder es wird auf die Verquickung mit dem Westen verwiesen, zum Beispiel auf die Unterstützung Saddam Husseins durch westliche Regierungen. Goytisolo würde zwar kaum eines der arabischen Regimes loben. Aber beim Thema Menschenrechtsverletzungen wird Israel weitaus öfter als alle arabischen Gruselregimes, Milizen und Terrorgruppen zusammen an den Pranger gestellt. So wird Israel ohne direkte antisemitische Zuschreibungen dämonisiert.

Auch in seinen Analysen zum 11. September und zum Terrorattentat von Madrid gelangt Goytisolo zielstrebig zu den politischen Fehlern der USA und Israels oder verweist auf das Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd. Dabei meint er, kritisch gegenüber allen Beteiligten zu sein. Am Ende seines Buches distanziert er sich von »der anachronistischen Rede von Europäern als Kreuzfahrern«, fordert von den muslimischen Migranten die Einhaltung von Gesetzen und geißelt den Terror der al-Qaida als Barbarei, die »sich auf keinerlei Zivilisation stützt«. Das ist nicht viel, doch mehr, als zwischenzeitlich zu erwarten war.

Goytisolo verfeinert seine antiisraelische Position jedoch noch weiter. Seine Israel-Kritik ist gespickt mit Zitaten jüdischer Kritiker der israelischen Politik. Dabei ist zu sagen, dass Goytisolo zwar kein antisemitisches Weltbild hat, aber seine Dämonisierung Israels arbeitet dem Antisemitismus zu.

Goytisolo verfügt über ein simples binäres Weltbild. Wenn es um die Kritik an der Festung Europa geht, führt dieses Weltbild zu keinen gefährlichen Schlüssen, seine Darstellung des Nahostkonflikts birgt umso riskantere Einschätzungen: Israel ist heute eben der bevorzugte Ort, in den das unbegriffene Ressentiment gegen die neuen kapitalistischen Umbrüche projiziert wird.

Juan Goytisolo: Gläserne Grenzen. Einwände und Anstöße. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2004, 10 Euro