Comeback der Meiler

In vielen Ländern wird die Errichtung neuer Atomkraftwerke geplant. Rund 20 Jahre nach Tschernobyl versucht die Atomlobby, die »friedliche Nutzung der Kernenergie« als Lösung ökologischer Probleme zu verkaufen. von cord riechelmann

Der Mann schien etwas derangiert und auch die Zunge hatte Mühe, ihrer Tätigkeit nachzukommen. Aber so schlimm kann es um Hans Olaf Henkel, den ehemaligen Unternehmer- und jetzigen Forschungsfunktionär, gar nicht bestellt sein, dass er nicht noch seine drei wichtigsten Vorschläge zur Rettung Deutschlands verbreitet. Vor kurzem von einer Fernsehmoderatorin zur Lage befragt, hatte Henkel neben seinen Dauerbrennern, wie der Senkung der »Lohnkosten«, dem Abbau der Bürokratie und der Eindämmung der Gewerkschaften, noch ein Anliegen, das, so konnte man meinen, schon lange in ihm rumorte und jetzt endlich nach außen drang: Es müsse endlich auch Schluss sein mit der einseitigen Verteufelung der Kernenergie.

Von einer »Verteufelung« der Atomenergie kann allerdings keine Rede mehr sein. Auf den Wissenschaftsseiten vieler Zeitungen wird die Atomkraft – Tschernobyl ist längst vergessen – bereits wieder als »saubere« Energie gepriesen. Begreift man Henkel als den Vermittler längst eingeleiteter Strukturveränderungen in Staat, Wirtschaft und Wissenschaft, dann wird sein Statement zur Atomenergie bedeutungsvoll.

Die Atomenergie steht vor einer Renaissance. China bestellt und plant Atomkraftwerke in einem Umfang, der sich mit dem Atomprogramm Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg messen kann. 40 neue Atomkraftwerke will das Land in den nächsten 15 Jahren errichten. Der Bau neuer Atomkraftwerke ist in Indien geplant, in Russland, Rumänien, Finnland und Frankreich. In Deutschland erwägt die CDU, im Falle einer Regierungsübernahme im Jahr 2006, den Ausstiegsbeschluss rückgängig zu machen.

Und auch in den USA, wo seit Ende der siebziger Jahre kein neues Atomkraftwerk mehr gebaut wurde, könnte es zu einem Umdenken kommen. Präsident George W. Bush sagte kürzlich dem Wall Street Journal über die Atomenergie: »Sie wird auf viele unserer Fragen Antworten geben. Mit Sicherheit löst sie die Umweltproblematik.« Gerade mit dem Hinweis auf den Kohlendioxidausstoß von Kohlekraftwerken und den Folgen für das Klima begründen heute die Befürworter der Atomenergie deren angebliche Notwendigkeit.

Überraschend ist das nicht. Die Atomphysik und die damit verbundenen Technologien auf ihrem heutigen Stand sind das Ergebnis gigantischer staatlicher Förderprogramme für Wissenschaft und Wirtschaft in vielen Ländern. Diese Investitionen waren nicht folgenlos. Es ist auch kein Zufall, dass im hierzulande bisher elitärsten Versuch, der Wissenschaft und ihren Verfahrensweisen auf die Spur zu kommen, im mittlerweile geschlossenen »Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt« in den siebziger Jahren neben Jürgen Habermas, der für die Geisteswissenschaften zuständig war, ein Physiker sich den Naturwissenschaften annehmen durfte, nämlich Carl Friedrich von Weizsäcker. Ihm wird auch die Wendung von der »friedlichen Nutzung der Kernenergie« zugeschrieben.

Die immense gesellschaftliche Wirkung, die diese Formel entfaltete, als nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Schock von Hiroshima und Nagasaki die Atomenergie hierzulande um Akzeptanz rang, kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Die Formel hatte schwerwiegende Folgen für die Kritik der Atomforschung als solcher, die immer auch militärische Forschung war. Es handelt sich bei Atomkraftwerken eben nicht um »friedliche« Energieerzeuger, sondern um »stationäre Atombomben«, wie Hermann L. Gremliza sie einmal beschrieb. Das wurde mit der Rede von der »friedlichen Nutzung« verschleiert.

Die Kritik der grünen Sonnenblumendemonstranten ist, aller Ausstiegsrhetorik zum Trotz, gescheitert. Der Kanzler reist schließlich nicht mit irgendwelchen Kulturhanseln, die in den Schreibstuben grüner Politiker ihr gutes und gedankenloses Dasein fristen, nach China, sondern im Einvernehmen mit den Entscheidungsträgern von Siemens. Und in den Laboratorien und Fertigungsanlagen von Siemens sitzen eben Leute, die, physikalisch geschult und unabhängig von ökonomischen Fragen, das Verbrennen von Erdöl kritisieren. Einen Energieträger wie Erdöl etwa für den Autoverkehr zu verschwenden, gilt jedem Physiker als verantwortungslos. Nimmt man die augenfälligen Folgen für das Klima hinzu, die aus der Verbrennung von Öl und seinen Folgeprodukten entstehen, ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Schlussfolgerung, doch lieber eine angeblich saubere, billigere und weniger Rohstoff verbrauchende Energie wie die Atomkraft einzusetzen.

Für Mathematiker, Chemiker und Physiker ist das auch deshalb problemlos, weil sie die verheerenden Auswirkungen radioaktiver Strahlung auf die Strukturen lebender Organismen als rein technisches Problem auffassen. Die Katastrophen von Tschernobyl und Harrisburg oder die erhöhten Leukämieraten in der Umgebung von Atomkraftwerken sind für sie einfach eine Folge noch nicht ausgereifter Technik. Und für die Anwohner von Atomkraftwerken gibt es Jodtabletten gratis, wie Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein Anfang April beschlossen.

»Das Leben und der Tod sind an sich keine Probleme der Physik, auch wenn der Physiker bei seiner Arbeit sein eigenes Leben riskiert oder das anderer; es handelt sich für ihn um Fragen der Moral oder Politik, nicht um wissenschaftliche Fragen«, schreibt Michel Foucault in einem seinem Lehrer gewidmeten Text mit dem Titel »Georges Canguilhem: Philosoph des Irrtums«. Canguilhem gehört zu den wenigen Philosophen, die sich wissenschaftshistorisch und –theoretisch mit Medizin und Biologie auseinandersetzten. Mit Wissenschaften also, die, anders als die Physik oder die Chemie, gerade die spezifischen Unberechenbarkeiten des organischen Lebens zu ihrem Erkenntnisgegenstand machen. »Wie A. Lwoff sagt, ist für den Physiker eine genetische Mutation, sei sie tödlich oder nicht, nichts anderes als die Ersetzung einer Nukleinbase durch eine andere«, fährt Foucault an der oben zitierten Stelle fort.

Wer so denkt, dem erschließt sich auch die Möglichkeit des Reparaturdenkens auf der Ebene der Nukleinbasen. Was schief läuft, könne, wenn man den Mechanismus einmal verstanden habe, auch wieder rückgängig gemacht werden. Einem solchen Denken ist mit ethischen Argumenten nicht beizukommen.

Eine Wissenschaftskritik hat die Anti-Atomkraft-Bewegung nie ausreichend entwickelt. Ihr Protest blieb lokal und an Standorte wie Wackersdorf und Gorleben gebunden. Hier konnte man die Bürger bewegen. Wurden die Standorte aufgegeben, war auch der Protestgrund verschwunden, womit sich meist auch die den Protest organisierenden außerparlamentarischen Gruppen auflösten. Der Schritt zu einer über lokale Anlässe und Ereignisse hinausgehenden Kritik ist in den Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre nicht im nötigen Maße erfolgt.

Eine Kritik der Atomenergie muss jedoch auch eine Kritik der Wissenschaft sein, eine Kritik der rein physikalisch-chemischen Erklärungen und Deutungen des Lebens. Sie muss die gesellschaftliche Bedingtheit der Forschung, ihre soziologische und politische Bedeutung erfassen. So würde diese Kritik politisch. Forschungsgelder fallen nämlich nicht vom Himmel.