Die Übertreibung der Übertreibung

Die neuen Platten von The Kills und Electronicat setzen auf unterschiedliche Formen der Selbstinszenierung. von michael saager

Iggy Pop wälzte sich in Glasscherben, die Mitglieder der australischen Band Lubricated Goat zündeten sich gegenseitig die Haare an, David Yow von Jesus Lizard reichte seinem Schwanz das Mikrofon, und GG Allin kackte auf die Bühne. Der Rock’n’Roll hatte immer schon ein Faible für Übertreibungen.

Doch die Bühne ist freilich nur ein Teil der »Show« im Rock’n’Roll. Und man braucht sie auch nicht unbedingt, um der Idee der Übertreibung nachzuspüren. Die Musik, ein paar Interview-Aussagen vielleicht, ein Blick auf das Artwork des Covers oder die Erscheinung der Musiker reichen meist schon – jedenfalls bei The Kills und Electronicat, zwei Protagonisten besonders überschwänglicher Selbstinszenierungen.

Das Londoner Boy-Girl-Duo The Kills hat mit »No Wow« kürzlich seine zweite Platte auf den Markt gebracht, die bei der Kritik gut ankam. Jamie Hince (Schlagzeug, Gesang) und Alison Moshart (Gitarre, Gesang) schafften es sogar auf das Cover des hippen Londoner Magazins Dazed and Confused. Wie nicht anders zu erwarten, sahen sie dort exakt so aus, wie sich ihre Musik anhört: ziemlich kaputt, aber auf eine schicke, urban schimmernde Weise. Coole schwarze Klamotten, viel Kajal, Augenringe, Frisuren, die aussahen wie mit linker Hand und ohne Hilfe des Daumens geschnitten, aber vermutlich in einem sündhaft teuren Friseursalon fabriziert wurden. Kaputt wirken und kaputt klingen hat bei den Kills Methode.

Auch Electronicat hat gerade sein zweites Album veröffentlicht. Es heißt »Voodoo Man«, und bereits der Titel verweist auf eine andere Art der Inszenierung von Übertreibung. Voodoo, diese von weißen Europäern, insbesondere von Künstlern, regelmäßig (und absichtlich) missverstandene magisch-religiöse Praxis der Haitianer, erscheint auch bei Fred Bigot – so heißt der in Berlin lebende Franzose mit bürgerlichem Namen – als allerplattestes Klischee. Voodoo wird hier einmal mehr identisch gesetzt mit Horror und Wahnsinn – aber womit auch sonst? Der Begriff »Voodoo« ist ob seines eindimensionalen popkulturellen Gebrauchs semantisch längst festgezurrt. Deshalb kann man auch davon ausgehen, dass der Betrachter des Album-Titels von Anbeginn an wissen soll, was für eine unfassbare »crazy« Abfahrt da auf ihn wartet.

Auf den ersten Blick nicht so recht zum Titel des Albums und zur Musik – zum explosiven Electro-Rock’n’Roll – passt allerdings das Coverfoto Bigots. Dort gibt er nämlich nicht den Hühnerhälse zerbeißenden, Augen rollenden Voodoo-Priester, sondern einen entrückt ins Nichts schauenden, glamourösen Dandy-Musiker, eine androgyne Erscheinung in goldenem Hemd, vor romantischem Hintergrund aus zarten Rauchschwaden und buntem Blattwerk. Nun gut, vielleicht wollte er damit so etwas wie einen bizarren künstlerischen Widerspruch formulieren. Oder er fand, er sei die falsche Person für ein Klischee-Foto der handelsüblichen Art.

Musikalisch macht Bigot seine Sache ziemlich gut, zumindest hat man bei ihm nicht das Gefühl, die Einlösung des Versprechens auf eine irre Party würde auf die Live-Performance irgendwann später verschoben. »Voodoo Man« zögert nicht eine Sekunde, setzt alles auf eine Karte und nimmt keine Gefangenen. Elektronische Bässe platzen wie Reifen auf der Autobahn, die Drum-Machine hämmert, es gibt Hall aus zehn Großgaragen gleichzeitig und Feedbackorgien, die selbst Spacemen 3 nicht dichter und bedröhnter eingefallen wären.

Die Platte folgt einem musikalischen Konzept, das »Ja« sagt zur Ökonomie der Verschwendung, also Ja zu Pulp-Surf-Sound, zum glamourös-fiesen Psychobilly der Cramps, zu »I Wanna Be Your Dog« der Stooges, Suicides »Rocket USA« und Cabaret Voltaires »Nag Nag Nag«. In anderen Worten: Bigot will jene Sorte Übertreibung, die nach ganz außen drängt. Die nichts Innerliches besitzt, keinen Rückzugspunkt, kein ruhiges Zentrum. Es ist eine Platte, die uns mit hyperlautem Appell daran erinnert, dass es kein richtig aufregendes Leben gibt, außer auf exzessiven Partys. Dazu singt Bigot, der Entertainment-Prayer, mit der Stimme eines unheimlichen Verführers: »You need flesh, some flesh…« Das alles ist zweifellos übertrieben bis ins Groteske hinein. Aber das macht nichts, weil es fast in jeder Sekunde gut gemacht ist und sich niemals ernster nimmt, als eine Party sich nehmen sollte.

Hotel und VV, so die Künstlernamen von Hince und Mosshart, den beiden von The Kills, verfolgen mit »No Wow«, wie gesagt, einen anderen Pfad der Übertreibung, obgleich ihr zerdehnter, staubiger Punk-Blues so etwas wie ein wahlverwandtschaftliches oder strukturelles Beziehungsverhältnis mit Bigots elektronisiertem Glam-Punk’n’Roll unterhält. Beiden Platten gemein ist nämlich – neben ähnlichen Riffs und Hooklines – eine seltsame Kälte oder Coolness, die einen zweifachen Widerspruch provoziert: Sie fühlen sich beide eigentümlich schwül an. Dennoch erinnern sie einen nicht an Schweiß oder den Vorgang des Schwitzens. Warum auch immer.

Signifikanter sind aber die Differenzen. »Voodoo Man« ist laut und groß und schrill. Das Album buhlt mit allem, was es hat, noch um den letzten Zipfel Aufmerksamkeit; »No Wow« von den Kills hingegen ist wesentlich selbstgenügsamer, stellenweise regelrecht autistisch, was sich nicht nur gesund anhört, sondern mitunter an die Einsamkeit eines mittellosen Fixers denken lässt. Die Kills setzen, wie schon auf ihrer ersten Platte »Keep On Your Meanside«, auf eine aus dem LoFi kommende Underground-Idee, der alles verdächtig erscheint, was größer ist als ein muffiger Wandschrank. Man könnte ihre Musik auch ideosynkratischen Minimalismus nennen; sie kommen wirklich mit verflucht wenig aus. Andererseits braucht man vielleicht tatsächlich kein Schlagzeug, wenn man einen klapprigen alten Drumcomputer hat (oder einen Schlagzeuger, der sich so anhört). Und wahrscheinlich klingt Blues tatsächlich am heftigsten, wenn die Songs mit einem Vierspur-Rekorder aufgenommen worden sind. So wie hier. Die Wohnung ist leer, aber dreckig. Doch gerade weil hier alles so schön übersichtlich ist, hat der Hall mehr Raum, gelangen die monotonen Repetitionen mitunter an hypnotische Punkte, klingt VVs Gesang erst recht nach einer schwer kranken Patti Smith.

Wenn es gut läuft jedenfalls. Denn ungefähr die Hälfte der Songs auf »No Wow« sind ein reichlich angestrengter Versuch, dem Rock’n’Roll, dessen Handvoll Regeln Hotel und VV natürlich auswendig kennen, möglichst viel von der symbolischen Kapitalsorte »abgefuckte Coolness« abzuschwatzen. Diese Songs sind allein Mittel zum Zweck und hängen, ohne dass man sie sich länger als ein paar Sekunden merken könnte, in der Luft wie hohle Gesten. Wer Hotel und VV für übertrieben prätentiöse Rock’n’Roll-Namen hält, ahnt vielleicht, dass hier die Übertreibung, als adäquates Mittel ausdrücklichen Begehrens im Rock, über sich selbst hinausgetrieben wurde.

The Kills: No Wow (Domino/EMI). Electronicat: Voodoo Man (Disko B/Hausmusik/Indigo)