Schneller heilig

Der Papst ist beerdigt. Die Presse war dabei, voller Demut und Dankbarkeit. Eine Installation von stefan wirner

Es liegt etwas erhebend Leichtes in dem Ende, das kein Ende ist. Die hallenden Töne des Todes wehen über das stille Meer unserer glitzernden Köpfe und schalen Gesichter. Die Stille wird zum Stau des Schmerzes. Ein »Ah!« aus unzähligen Kehlen. Mehr zu spüren als zu hören. Auf dem riesigen Platz erstirbt alles Geräusch. Sind es Sekunden, sind es Minuten? Ernste Gesichter. Müde. Hysterisch. Verklärt. Eingeschlafen. Selig. Flehend. Nicht nur Frauen weinen, auch Männer wischen sich Tränen aus den Augen. Es ist ein schöner Tag für einen Abschied.

Der Schmerz gefriert zur Stille, die uns alle umarmt. Wir schauen, wir starren, wir wollen alle in seiner Nähe sein, am liebsten würden wir ihn alle mit unseren Fingern berühren. Wir sind weiß, gelb, schwarz, Babys, Nonnen, Punks, Pfadfinder, Hunde, Handys, Verliebte, Weinende. Verwandte. Schwule. Kinder. Alte Ehepaare. Bauchfrei, gepierct, ergraut, Minirock und Kutte. Viele rufen »santo« (heilig), halten Spruchbänder mit der Aufschrift: »santo subito« (sofort heilig) – sie wollen die schnelle Heiligsprechung ihres Papstes. Ihr Klatschen ist wie ein Amen mit vielen Händen. Die Hand des anderen wird zum Rosenkranz. Das Händchenhalten der Herzen. Auf dem Platz Sprechchöre in Englisch: »John Paul Two, we love you!«

Wir erleben keine lähmende Trauer. Wir stehen im schicksalshaften Staunen. Es ist eine Wiederauferstehung in die Ewigkeit. Wir sind Augen, Herzen, Tränen. Es ist kurz vor dem Regen, die Tränen des Himmels. Helikopter schweben wie Schutzengel über dem Dom. Polizisten bekreuzigen sich – und knipsen mit Foto-Handys. Die Spannung ist mit Händen zu greifen, und als gegen zehn Uhr der Sarg des toten Papstes langsam aus dem Innern des Petersdoms auf den Platz getragen wird, entlädt sie sich mit rhythmischem Klatschen. Der Sarg ist schlicht. Ich denke, er passt sehr gut zur Bodenständigkeit dieses Mannes aus Wadowice, dem die Menschen wichtiger waren als jeder Materialismus. Auf dem Sargdeckel ist ein Kreuz zu sehen. Der Buchstabe »M« steht für die von Johannes Paul II. hoch verehrte Muttergottes Maria. Ich fühle mich wie in einem Bibel-Film. Vielleicht ist die Sehnsucht wahr. Er geht uns voraus. Der Unsterbliche. Er tritt das letzte Abenteuer des Lebens an. Er stirbt öffentlich wie Christus. Er ist ja auch nicht vom Kreuz herunter gestiegen. Aber er lebt – in uns.

Dieser Mann schien weder Scham zu verspüren für seine Gebrechen, noch hatte er Angst vor dem Sterben. Er trug seine Krankheiten wie Christus das Kreuz. Man sieht, dass der Tod es nicht leicht gehabt hat, diesen Mann aus dem Leben zu reißen. Ein Mensch mit einer Leidensgeschichte, die ihn zu einem Symbol des Leids und des Mitleids machte. Sein schmerzverzerrtes Gesicht wird überall auf dem Erdball noch lange in Erinnerung bleiben – als Zeichen bedingungsloser Annahme von Leid und Krankheit. Er war auch eine Ikone des Leidens. Nicht zuletzt hat er mit seinem Leiden in Stärke vorgemacht, was nur wenige zu fühlen imstande sind, obwohl es jedem offen stünde: Für nichts, was uns auferlegt ist, müssen wir uns schämen, nicht für das Zittern, nicht für das Röcheln, nicht für die Inkontinenz oder für das Allesvergessen.

Die Welt trauert um einen Philosophen der Zivilisation der Liebe. Seine menschliche Wärme hat fasziniert, seine spirituelle Kraft hat überzeugt. Er hat durch sein Wirken und durch seine beeindruckende Persönlichkeit unsere Welt verändert. Die Welt hat einen Verfechter der menschlichen Freiheit verloren. Die Welt hat einen großen Mann verloren, weil dieser Titan des Glaubens bedingungslos kämpfte. Nicht für Macht oder Geld oder Einfluss, sondern für das Gute. Er war eine Inspiration, ein Mann mit außerordentlichem Glauben, Würde und Mut. Er war eine herausragende Persönlichkeit unserer Zeit, mit der eine ganze Ära verknüpft ist. Wir sind dankbar für seine unermüdlichen Anstrengungen gegen Totalitarismus, Gewalt, Unterdrückung und moralischen Verfall.

Den Triumph über den Kommunismus hat dieser Papst mit herbeigeführt, dafür wird ihn die Geschichte kennen und vielleicht einmal »Johannes Paul den Großen« nennen. Sein Anteil daran, dass die Menschheit das Zeitalter des Kommunismus überwunden hat, ist gar nicht hoch genug zu bewerten. Er war ein hartnäckiger Gegner des Kommunismus, aber auch des egoistischen Kapitalismus. Wir sollten uns daran erinnern, dass er den Weltfrieden gepredigt hat. Er hatte nicht nur einen großen Geist, sondern einen guten Geist. Sein Tod ist ein riesiger Verlust für alle Menschen guten Willens. Er hat immer wieder Brücken gebaut, zwischen Gott und den Menschen, zwischen Völkern und Kulturen, zwischen Alten und Jungen, Reichen und Armen.

Der letzte absolutistische Monarch ist von uns gegangen. Aber vermissen werden wir den Menschen. Seine moralische Autorität, ganz gleich, ob sie uns passte oder nicht. Seinen Kampf für Frieden und Menschenrechte, ganz gleich, ob das den Mächtigen dieser Welt gefiel oder nicht. Je krummer sein Rücken wurde, desto unbeugsamer wurde seine Gesinnung. Er war der Fels in der Brandung des Zeitgeistes. Hat er Wunder bewirkt? Einem blinden Mädchen soll er bei einer Auslandsreise in die Karibik das Augenlicht wiedergegeben haben. Eine unheilbar an Krebs erkrankte Mutter von vier Kindern soll er 1965 durch seine Gebete geheilt haben.

Ich kann mir keine Welt ohne ihn vorstellen. Es war für mich, als ob ein Verwandter stirbt. Ich musste losheulen. Er war die Liebe meines Lebens. Er war hart mit sich, er beklagte sich nie. Er hat vom ersten Tag an die Etikette verletzt und sich nach Kräften dagegen gewehrt, einfach nur eine Schablone zu sein. In ihm lebte fast ein instinktives, sicheres Gefühl für die Würde und Unantastbarkeit des Menschen. Diese Unerschrockenheit, ganz gleich gegenüber welchem System, die war einzigartig. Das Gewissen der Welt. Er hinterlässt ein großes Loch. Er war Anwalt der Armen. Kämpfer für die Freiheit. Weltreisender in Sachen Frieden. Seine Verdienste werden ganze Kapitel in Geschichtsbüchern füllen.

Wir werden ihn als herausragende Persönlichkeit vermissen, die ihr Leben der Verteidigung von Frieden, Freiheit und Gleichheit gewidmet hat. Fest, unverrückbar, hart. Zuversichtlich, stark, würdevoll. Wir haben einen absoluten Sympathieträger verloren, der den Menschen Kraft gab. Er hat immer und immer wieder an die soziale Verantwortung erinnert, die aus Kapital und Reichtum folgt. Seine tiefe Frömmigkeit und Spiritualität waren unmittelbar spürbar. Die Welt hat einen großen Menschen verloren. Im Tod noch brachte er viele zurück auf den Weg des Glaubens. Wir werden ihn alle vermissen. Alle Menschen, die im Fegefeuer auf dem Weg in den Himmel ausharren mussten, können nun mit ihm das ewige Leben beginnen.

Wir wollen ihm die Erlösung gönnen. Der Wanderer des Herren. Nie ist ein Mensch mehr Menschen begegnet. Gereist ist er wie kein zweiter, kommuniziert hat er wie kein anderer. Er wandelte auf der Erde, sie wurde sein, er nahm sie ein. Über ihn hat die Welt wieder mitzufühlen, zu warten gelernt. Dafür ist er der Menschen Held geworden. Mehr noch als ein Idol, ein Held, ein Star, ein Heiliger. Weltgipfel der Trauer. Abendland und Morgenland, Helden und Sünder, Könige und Tyrannen verneigen sich. Wenn es eine Liste der wichtigsten Toten gäbe, dann würde sie ab heute von Johannes Paul II. angeführt. Ein Jahrtausendmann stirbt, der noch die Asche von Auschwitz gerochen hat. Der Marathonmann Gottes. Der Prediger einer Zivilisation der Liebe.

Er liebte die Menschen. Ich weiß nicht, was wir tun werden, ohne seine Führung. Wir können sicher sein, dass unser geliebter Papst nun am Fenster des Hauses Gottes steht. Er sieht und er segnet uns. Das war eine einmalig beeindruckende Zeremonie – neben dem Fall der Mauer sicher ein sehr, sehr eindrückliches Erlebnis. Ein letzter tosender Applaus, ehe der Sarg im Dunkel des Kirchenschiffs verschwindet. Ruhe sanft in Ewigkeit. Amen.

Zitiert wurde aus: Berliner Kurier, Berliner Morgenpost, Berliner Zeitung, Bild, B.Z., Der Spiegel, Tagesspiegel, Die Welt