Stell dir vor, der Papst stirbt …

… und alle rennen hin. Über die Hysterie beim Tod des Kirchenoberhaupts. von horst pankow

In Luis Buñuels 1969 entstandenem Film »Die Milchstraße« hat einer der beiden Protagonisten, ein Clochard, die Vision von der Hinrichtung des Papstes. Während eines bizarren Sommerfestes eines katholischen Internats wird die Hinrichtungsszene in vier Sequenzen präsentiert: Angeführt von einer Frau, marschiert eine Gruppe bewaffneter Revolutionäre unter schwarz-roten Anarchistenfahnen zu einem Platz, auf dem sie den Papst exekutieren. Die verhallenden Schüsse sind nach der Überblendung in die Haupterzählebene noch zu hören, als der junge Clochard erklärt: »Das war ich. Ich habe mir vorgestellt, man erschießt einen Papst.«

Was in Buñuels Film als verpasste, gleichwohl historisch notwendige, revolutionäre Aufhebung einer Agentur der Unvernunft und Inhumanität interpretiert werden kann, wird nun, so paradox es erscheinen mag, von den »Divisionen des Papstes« (J.W. Stalin) selbst vollzogen. Die mehr als vier Millionen scheinbar von nichts anderem als religiöser Inbrunst Mobilisierten und ihre massenmedialen Begleiter, die Anfang April die ewige Stadt des Christentums belagerten, erweisen sich als berufene Totengräber einer überkommenen Institution – leider nicht in emanzipatorischer Absicht.

Wer verzückte Kommentare der deutschen Tagespresse – die, wie etwa der Berliner Tagessspiegel, das Massenornament zum Beweis dafür erklären, »dass Religion, so oder so, eine Weltmacht ist, (…) eine Seelen- und Geschichtskraft von wachsender Stärke« –, als Apologie des Katholizismus oder des Christentums liest, irrt, denn von beidem ist überhaupt nicht die Rede. Wer sich hingegen noch an die gewöhnlich nicht sehr schmeichelhafte Kommentierung traditionell katholischer Gepflogenheiten durch die hiesigen Mainstream-Medien und ihre nachplappernden Konsumenten vor dem als Großereignis inszenierten Papststerben erinnert, vermag die alles andere als untergründige Aggression in der öffentlichen Sterbebegleitung nicht zu ignorieren.

Als am Abend des 2. April der definitive klinische Tod des Papstes verkündet wurde, soll die auf dem Petersplatz versammelte Menge applaudiert haben. Kommentatoren erklären den Applaus mit der Erleichterung über »das Ende der Leiden des Pontifex«. Doch verweist dieser Beifall wohl eher auf die kurz zuvor stattgehabte Erleichterung eines grundkatholischen Mannes jenseits des Atlantiks, der erfolgreich demokratische Gerichte bemühte, seine behinderte Ehefrau dem Euthanasie-Tod zu überantworten und damit wahrscheinlich eine Entwicklung initiierte, die Naive bislang nur in »totalitären« Gesellschaften für möglich gehalten hatten.

»1952 pilgerten in Buenos Aires 700 000 Argentinier zur aufgebahrten Evita Peron und warteten bis zu 15 Stunden, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. Wird Johannes Paul II. das toppen?« fragt ein Tagesspiegel-Kommentator. Auch eine weniger armselige Sprache könnte kaum die Erwartung künftigen Feuerscheins kaschieren. Oder wusste der Autor nicht, dass, nachdem der Vatikan eine Heiligsprechung Evitas, wie von ihrem Präsidenten-Gatten und damit vom »ganzen argentinischen Volk« gefordert, abgelehnt hatte, katholische Kirchen und Klöster brannten und deren Silber zur Stopfung einiger Löcher des marode gewordenen peronistischen La-Plata-Sozialstaates Anwendung fand? Jenes Santo subito!, vieltausendstimmig skandiert, auf Transparenten herumgetragen und von notorischen Antikatholiken hierzulande aufs Heftigste goutiert, ist wohl weniger als Ausdruck sentimentaler Stimmung – etwa: ›Er ist für uns schon jetzt ein Heiliger‹ – denn als Drohung an die vatikanische Bürokratie zu verstehen. Warum nicht auch als – zunächst noch kokett-verspielte – Ankündigung eines allerchristlichsten, aus tiefstempfundener Volksfrömmigkeit inspirierten Autodafés?

In der polnischen Heimat des Verstorbenen sollen, wie uns die Süddeutsche Zeitung unterrichtet, am 7. April in Krakau etwa eine Million Menschen an einem »weißen Marsch« teilgenommen haben. Weiß sei im Land jenseits der Oder die »Farbe der Freude«; mit solcherart Umzug sollte »dem verstorbenen Papst für sein Wirken gedankt werden«. Wer’s glaubt, wird selig, verspricht eine alte christlich-ökumenische Weisheit. Und wer die desaströsen Folgen des Wojtylaschen Antikommunismus in Polen kennt, weiß, dass seine Landsleute vielerlei Gründe hätten, den großen Sohn ihres Vaterlandes recht gering zu schätzen, was ihnen jedoch als Katholiken und Nationalisten unchristlich schwer fällt.

Immerhin haben sie mit ihrem weißen Marschieren einen anderen Weg eingeschlagen als noch am Vortag von Teilen der deutschen Presse intendiert: Der Tagesspiegel beispielsweise informierte seine Leser, es sei in Polen »Tradition, Körper oder Teile der Nationalhelden heimzuholen«. Berichtet wurde von im Ausland bestatteten polnischen Leichen, denen Herzen, Hirne oder andere Organe entnommen wurden, um sie in den Mutterschoß der Heimat zu versenken. Nicht zu Unrecht wurde auch das Beispiel des 1935 gestorbenen Marschalls Pilsudski erwähnt, erster Staatschef des nach dem Ersten Weltkrieg neu gegründeten Polen und einer der prominenten europäischen Faschisten des frühen 20. Jahrhunderts, dessen Leichnam in der Krakauer Wawel-Kathedrale mumifiziert ruht, dessen Herz aber dem Grab seiner Mutter im heute litauischen Wilna zugefügt wurde. Es ist die alte Geschichte von Brutalität und Sentiment.

Wenngleich dieses Ansinnen vom Vatikan durch die Veröffentlichung eines »Testaments« des verstorbenen Polen durchkreuzt wurde, bleiben unangenehme Reminiszenzen: Etwa an islamisch-fanatisierte Palästinenser auf Beisetzungsmärschen getöteter Chefs, die deren Leichen auch unter Inkaufnahme von schweren Verletzungen und Todesgefahr berühren wollen – sublimierte Form archaischen »Kannibalismus« zwecks imaginierter Aneignung der einstigen Macht des Toten. Selbst die Süddeutsche Zeitung räumt ein: »Das Bild der Abertausenden, der dicht an dicht gedrängten Leiber, erinnert an die Pilgerfahrten in Mekka oder an die Khomeini-Revolution in Iran.« Auf diese Weise vollzogen, hätte nicht nur Buñuel die massendemokratische Aufhebung des vatikanischen »Dogmatismus« nicht gewünscht. Als hätten wir mit dem Islamismus nicht schon genug Übel am Hals.