Umzug im Sommer

Israels Ministerpräsident Ariel Sharon hat den Rückzug aus Gaza im Parlament durchgesetzt, die meisten Siedler sind zur Evakuierung bereit. Dennoch bereiten sich Polizei und Armee auf mögliche Auseinandersetzungen vor. von michael borgstede, tel aviv

Nach der erfolgreichen Abstimmung über den Haushaltsplan konnte Ariel Sharon zum ersten Mal seit langer Zeit entspannt durchatmen. Zwar hat noch kein einziger Siedler den Gaza-Streifen verlassen, und der für die Entschädigungszahlungen zuständigen Behörde liegt nur ein knappes Dutzend Anträge vor. Doch zumindest mit legalen Methoden ist der umstrittene Rückzugsplan des Ministerpräsidenten jetzt wohl nicht mehr aufzuhalten. Dass es so weit gekommen ist, grenzt an ein Wunder.

Die einflussreiche Siedlerlobby hatte den ihr verhassten Plan monatelang mit Massendemonstrationen, Straßenblockaden und Bürgerkriegsdrohungen bekämpft. Eine interne Abstimmung über die Pläne in Sharons Likud-Partei geriet zum Fiasko. Er musste Minister feuern, um seine Kabinettsmehrheit zu halten, sah sich einem Ultimatum seines Finanzministers Benjamin Netanjahu ausgesetzt, wechselte seine Koalitionspartner aus und konnte seine Pläne nur mühsam durch Kabinett und Knesset peitschen.

Dabei ging er bisweilen mit zweifelhaften Methoden zu Werk. Die Rückzugsgegner sehen sich deshalb als Opfer einer »undemokratischen Entscheidung«. Und in der Tat gilt es in einer Demokratie zu Recht als unfein, die Unterstützung einer orthodoxen Partei mit umgerechnet 100 Millionen Euro zu erkaufen, der säkularen Shinui Partei 120 Millionen zu spendieren und nach erfolgreichem Votum sechs Abgeordnete mit Ministerposten für ihr Abstimmungsverhalten zu belohnen. Zahlreiche Parlamentarier der sozialdemokratischen Arbeitspartei äußerten ihr Missfallen, doch um den Gaza-Rückzugsplan nicht zu gefährden, war man beim Koalitionspartner Sharons bereit, Kröten nahezu jeder Größe zu schlucken.

Die Probleme bei der Durchführung des Rückzugsplans sind jedoch noch unberechenbarer, als es die taktischen Manöver vieler Parlamentarier waren. Immer wieder betont die Armeeführung, sie sei »auf das Schlimmste vorbereitet« und habe Pläne für alle Szenarien in der Schublade.

Am liebsten wäre es der Regierung, wenn die rund 8 000 Siedler freiwillig ihre Koffer packen und sich mit Hilfe der großzügigen Entschädigungszahlungen von mehr als 200 000 Euro pro Familie andernorts in Israel niederlassen würden. Rund 70 Prozent der Siedler sind dazu bereits jetzt entschlossen. In der vergangenen Woche trafen sich Siedlerführer aus dem Gush-Katif-Block mit Sharon, um die Umsiedlung aller Einwohner in die Gegend der Nitzanim-Dünen zwischen Ashdod und Ashkalon zu diskutieren. Ein gewisser Pragmatismus scheint sich also auch unter den Siedlern breit zu machen. Die wenigsten wollen durch gewaltsamen Widerstand ihre Entschädigungszahlungen mindern.

Um zu verhindern, dass die Rückzugsgegner ihre Drohungen wahrmachen und zum Zeitpunkt der Räumung »mindestens 10 000« Demonstranten in den Gaza-Streifen bringen, will die Armeeführung das Gebiet bereits Anfang Juni zur militärischen Sperrzone erklären. Bis zu 40 Checkpoints auf den Hauptstraßen Südisraels, insbesondere aber des Westjordanlandes sollen Demonstranten möglichst früh abfangen.

In Zusammenarbeit mit den örtlichen Autoritäten sollen in der Woche vor dem Beginn der Räumung am 25. Juli die Waffen der Siedler konfisziert werden. Die Tatsache, dass ausgerechnet der nationalreligiöse Abgeordnete Effi Eitam, ein rechtsextremer Eiferer und ausgewiesener Rückzugsgegner, diese Möglichkeit ausgehandelt hat, gibt Grund zur Hoffnung. An einer gewaltsamen Konfrontation mit Soldaten ist auch unter den Siedlerführern kaum jemandem gelegen. Sollte trotzdem ein Siedler die Waffe erheben, werde die Reaktion der Truppen »hart und unnachgiebig« sein, sagte ein hoher Offizier der Armee. »Der erste Schuss muss auch der letzte bleiben.«

Um eine Eskalation zu vermeiden, soll die Räumung von Tausenden unbewaffneten Polizisten durchgeführt werden, die wiederum unter dem Schutz der Armee stehen. Die Drohung der Siedler, parallel zur Räumung Demonstrationen um den Tempelberg abzuhalten, lässt die israelischen Sicherheitsdienste offiziell kalt. Bei Protesten am vergangenen Samstag, die von den Organisatoren als Probe für eine Mobilisierung im Sommer bezeichnet wurden, sperrte die Polizei den Bezirk um den Tempelberg und nahm 16 Demonstranten fest.

Dennoch hat Verteidigungsminister Shaul Mofaz die Frist für die Evakuierungen immer wieder verkürzt. Sollte die Aktion ursprünglich zwölf Wochen dauern, ist nunmehr von drei Wochen die Rede. Die eingesetzten Soldaten müssen nämlich anderswo abgezogen und von Reservisten ersetzt werden. Die will man nicht monatelang von ihren Familien und Arbeitsplätzen fernhalten.

Noch unberechenbarer als das Verhalten der Siedler ist womöglich die Reaktion von palästinensischer Seite. Die Terrorgruppen werden vermutlich versuchen, durch Raketenanschläge auf Siedlungen und israelische Militärs den Eindruck zu erwecken, sie hätten die Besatzer in die Flucht geschlagen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei das Verhalten der palästinensischen Sicherheitsdienste. Werden sie Anschläge unterbinden oder den zu erwartenden Aufruhr stillschweigend dulden, ihn vielleicht gar heimlich unterstützen?

Nach dem Tod dreier palästinensischer Teenager im südlichen Gaza-Streifen am Wochenende feuerten militante Palästinenser innerhalb nur eines Tages 55 Raketen auf israelische Siedlungen ab. Ängstlich bemüht bat Verteidigungsminister Mofaz daraufhin den palästinensischen Innenminister, die Situation nicht eskalieren zu lassen. Beide Seiten wissen, wie gefährdet der mühsam ausgehandelte Waffenstillstand ist.

Die nächsten Monate können viele Überraschungen bringen, doch ist es sehr wahrscheinlich, dass kein Jude mehr im schmalen Streifen am Mittelmeer leben wird und vier Siedlungen im Norden des Westjordanlandes für immer verschwunden sein werden, wenn am 1. September in Israel das neue Schuljahr beginnt. Da der Rückzug aus Gaza als Generalprobe für eine Gesamtlösung gilt, wird Ariel Sharon vor schwierigen Entscheidungen stehen.

»Nur der Likud kann Frieden schließen«, behaupten insbesondere seine Anhänger gerne und berufen sich auf Menachem Begins Friedensabkommen mit Ägypten. Tatsächlich wäre Shimon Peres mit einem Gaza-Rückzugsplan längst gescheitert. Während Sharon seine rechten Gegner bekämpfte, konnte er sich nämlich immer auf die passive Unterstützung der Arbeitspartei verlassen. Bisher hat der Regierungschef Konsequenz und taktisches Kalkül bewiesen. Seine jüngsten Ankündigungen, die Siedlung Maaleh Adumim im Westjordanland auszubauen und mit den jüdischen Außenbezirken Jerusalems zu verbinden, verheißen aber nichts Gutes für Verhandlungen über die Zukunft der Westbank. Sharon mag bewiesen haben, dass die Rechte Frieden schließen könnte. Sie muss nur wollen.