State-Building und Inka-Folklore

Die jüngsten Revolten führen zur Zersplitterung Boliviens. Aber das staatliche Paradigma bleibt davon unberührt. von andrés pérez gonzález, santiago de chile

Man muss nicht bis nach Südafrika gehen, um sich das Regime der Apartheid ins Gedächtnis zu rufen. Dem bolivianischen Publizisten Andrés Solis Rada zufolge zeichneten sich die Rassisten in seinem Land dadurch aus, dass sie ihre Verachtung gegenüber der indigenen Bevölkerung im Lauf der Geschichte niemals verheimlichten. »Die Indios sind minderwertige Lebewesen. Ihre Beseitigung ist deshalb kein Verbrechen, sondern ein natürlicher Ausleseprozess«, erklärte der Staatschef José Manuel Pando am Ende des 19. Jahrhunderts. Und Bautista Saavedra, Präsident von 1921 bis 1925, sagte: »Der Indio ist nur ein Lasttier, armselig und niederträchtig. Er verursacht bei uns kein Mitgefühl, und man muss ihn bis an die Grenzen der Unmenschlichkeit schamlos ausbeuten.«

Selbst wenn die rassistische Politik niemals das Ausmaß des Leids während des Regimes der »Weißen« in Südafrika erreicht hat, trug sie doch indirekt dazu bei, den revolutionären Zorn unter der Bevölkerung der Hochebene zu säen, von der 70 Prozent indigener Abstammung sind. Bereits am Tag nach dem Rücktritt von Präsident Carlos Mesa erschien die Zeitung El Deber aus Santa Cruz mit der zynischen und gleichwohl realistischen Schlagzeile: »Der Nächste, bitte!« Offensichtlich verortet sich die Macht in Bolivien nicht mehr im Regierungssitz, dem Palacio Quemado. Stattdessen wird immer deutlicher, dass der bolivianische Staat ein Konstrukt ist, das sich mehr schlecht als recht im Namen der »nationalen Einheit« und der angeblichen »Souveränität des Volkes« am Leben erhält.

Zahlreiche internationale Beobachter weisen deswegen auf die Notwendigkeit hin, dass das nächste Regime in Bolivien eine »Regierung von Indios« sein müsse. So auch der in Spanien lebende bolivianische Autor und Politikwissenschaftler Edmundo Paz Roldán: »Evo Morales und andere bolivianische leader sollten nicht (zum Sozialforum, A.P.G.) nach Porto Alegre gehen, sondern stattdessen nach Südafrika. Denn da können sie lernen, wie man den Übergang zu einer schwarzen Regierung so gestaltet, dass die Weißen weder ökonomisch noch politisch ausgeschlossen werden.«

Morales bezieht einen Großteil seines Ansehens aus seinem »Anti-Imperialismus«. Dieser erreichte seinen Durchbruch 2003, als der US-Botschafter die bolivianische Bevölkerung offen dazu aufrief, bei den Präsidentschaftswahlen gegen Morales zu stimmen. Aber nicht überall ist er gleichermaßen populär. Im Westen des Landes, wo Armut herrscht und eine Bevölkerung lebt, die mehrheitlich den Quechua oder Aymara zuzurechnen ist, stehen einer kürzlich durchgeführten Umfrage zufolge nur 23 Prozent hinter Morales. Im Osten Boliviens, der reich an Bodenschätzen ist und in dem vor allem Weiße und Mestizen leben, sind es gar nur elf Prozent. In ideologischer Hinsicht steht Morales in einer Linie mit der »bolivarianischen Revolution«, was zur Folge hat, dass er nicht nur die moralische, sondern auch die materielle Unterstützung des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez und auch Fidel Castros besitzt. Der mächtige Gewerkschaftsverband Central Obrera Boliviana misstraut ihm jedoch, und der Anführer der indigenen Bewegung der Pachakuti, Felipe Quispe, ging sogar so weit, Morales als seinen Feind zu bezeichen.

Quispes Forderung nach einer neuen Nation der Aymara beruft sich direkt auf die Unabhängigkeitsbewegung, um ein Ende der Jahrhunderte währenden »rassischen Unterdrückung« herbeizuführen. Dabei geht es auch um die Verteidigung eines veralteten Systems kommunaler Regierung, das die Nutzung natürlicher Ressourcen, die Arbeitsorganisation und die sozialen und familiären Beziehungen unter Kontrolle hat. Quispe fällt dabei die Rolle des »Mallku« zu, der bei den Aymara die oberste Autorität der männlich codierten Politik darstellt.

In der gegenwärtigen Auseinandersetzung will keine Seite zurückstecken, und die verschiedenen Positionen bestehen unversöhnlich nebeneinander. Paz Roldán schreibt dazu: »Die Lösung ist schwer zu finden, und die Geduld hat bald ein Ende. Beschimpfungen, Misstrauen und Rassismus treten zu Tage, die wahren sozialen Beziehungen in Bolivien.« Hinzu kommt die sozioökonomische Dimension. Bolivien, das das zweitgrößten Erdgasvorkommen Lateinamerikas besitzt, setzt bei seiner wirtschaftlichen Entwicklung ganz auf die Ausbeutung dieser natürlichen Ressource. Radikale Gruppen fordern deshalb die »Nationalisierung«, das heißt die Verstaatlichung als eine Form der Enteignung der Rohstoffe und der Raffinerien der privaten Energiekonzerne. Ebenfalls ist, etwa bei Evo Morales und seiner »Bewegung zum Sozialismus«, die Rede von einer »intelligenten Nationalisierung«. Damit wird das Anrecht des Staates auf die Hälfte der Rohstoffe bezeichnet, was die unmittelbare Neuverhandlung der Verträge mit ausländischen Investoren zur Folge hätte. Die radikaleren Gruppen, die die Straßen von La Paz mit dem Ziel bevölkerten, die Regierung zu stürzen, suchen jedoch nach grundlegenden strukturellen Veränderungen. Das Energiegesetz ist nur ein Teil davon.

Experten stimmen darin überein, dass Bolivien auf der Suche nach einem neuen inklusiveren Entwicklungsmodell ist, das die einzige Möglichkeit darstellt, die Armutsrate, die nach Haiti die höchste in ganz Lateinamerika ist, sinnvoll zu bekämpfen. Obwohl noch nicht klar ist, wie dieses Modell genau aussieht, geht der Wirtschaftswissenschaftler Gonzalo Chávez von der »Universidad Católica Boliviana« davon aus, dass es die Beziehungen zwischen Staat und Markt wieder in ein Gleichgewicht bringen müsse. Carlos Malamud zufolge, Analyst am angesehenen »Real Instituto Elcano« in Madrid, ließen sich die Bolivianer all zu oft von einer fatalistischen Lesart ihrer Vergangenheit mitreißen, in der die Armut allein mit dem fehlenden Zugang zum Meer erklärt wird: »Darin zeigt sich ein Diskurs ohne wirklichen Inhalt. Denn auch die Schweiz ist von Bergen umgeben und hat keinen Zugang zum Meer. Aber sie ist keineswegs ein armes Land. Die Chilenen nehmen in dieser Wahrnehmung die Rolle des Bösewichts ein, der die Hauptverantwortung an der Qual der Bolivianer trägt. Ihre gerechte Strafe besteht dann darin, dass sie nichts von den nationalen Erdgasreserven abbekommen.«

Als Gegenbewegung zum internationalen Prozess des Machtverlusts des Staates wird mittlerweile vielerorts betont, dass eine starke Regierung in Bolivien die einzige Möglichkeit sei, einen Bürgerkrieg und die daraus folgende nationale Zersplitterung – die zudem ein Sicherheitsrisiko für den Kontinent darstellen würde – zu verhindern. Bolivien würde dann den institutionellen Weg des »Staatsaufbaus« beschreiten, wie ihn Francis Fukuyama in seinem Buch »State-Building« beschrieben hat und wie er in Afghanistan, dem Irak und Haiti vorgezeichnet ist. Der gegenwärtige Prozess in Bolivien geht also über eine simple politische Logik hinaus. Manche sehen in ihm bereits eine revolutionäre Logik, in der die verschiedensten Interessen und widersprüchlichsten Vorstellungen zusammenwirken, die gleichermaßen Leid, Zorn und Hoffnung produzieren.