Das Gerücht ist die Botschaft

Armer Friedrich Merz! Die Union ist zum konservativen Flügel der Sozialdemokratie degeneriert. Trost spendet richard gebhardt

Die versammelten Narren des Aachener Karnevalvereins spendeten herzlichen Applaus, als Friedrich Merz (CDU) vor wenigen Tagen bei der Ver­leihung des »Ordens wider den tierischen Ernst« seine Laudatio auf den diesjährigen Preisträger hielt. Der sonderbarerweise als Rhetoriker geschätzte Finanzpolitiker Merz erreichte mit seiner von der ARD zur samstäglichen Prime Time übertragenen Rede Millionen Fernsehzuschauer, denen er fröhlich zustimmend das Weltbild des Geehrten – Joachim Hunold, der Chef von Air Berlin – präsentierte. Gewerkschaften seien für den nach Auskunft von Merz ebenso trink- wie mei­nungs­freudigen Hunold »das größte Verbrechen an der Wirtschaft«, beim Verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske bekomme der »Luftfahrt-Guru« mit »Kruppstahl-Leber« sogar »das Kotzen«.

Nicht nur die Frankfurter Allgemeine Zeitung wertete die Rede als offensives wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Credo des Sauerländers. Doch wer nach dem Auftritt erwartet hatte, der Erfinder der Bierdeckelsteuer läute eine neue neoliberale Runde ein, wurde rasch enttäuscht. Der als Gegenspieler von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) geltende Merz verkündete stattdessen seinen persönlichen politischen Aschermittwoch. Bei den Bundestagswahlen 2009 werde er nicht mehr kandidieren, teilte sein Büro der Presse mit. Grund für den Rückzug auf Raten seien die Politik der Großen Koalition und der nord­rhein-westfälischen Christdemokraten unter Ministerpräsident Jürgen Rüttgers.

Handelsblatt und Bild brachten Meldungen über die angeblichen Pläne von Merz, eine neue liberal-konservative Partei zu gründen. Finanzierungsgespräche mit herausragenden Unternehmern hätten bereits stattgefunden. Als mögliche Parteigänger wurden der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Norbert Röttgen, und der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Wolfgang Bosbach genannt. Der Innenexperte Bosbach brachte die Stimmung eines Teils der Fraktion auf den Punkt: »Wenn man in 14 Monaten Regierung mehr Frustrationserlebnisse hat als in sieben Jahren Opposition, kommt man ins Grübeln.« Die Faust der Frustrierten stecke noch in der Tasche. Doch die 23 Stimmen von Mitgliedern der Union gegen die Gesundheitsreform zeigen das Konfliktpotenzial.

Manfred Güllner vom Meinungsforschungsinstitut Forsa räumte der Phantom-Partei in Bild beachtliche Chancen ein: »Ein zweistelliges Ergebnis wäre durchaus drin.« Welchen Realitätsgehalt die bereits mehrfach zurückgewiesenen Spekulationen über eine mögliche Gründung einer Merz-Partei auch haben mögen – in der aktuellen politischen Auseinandersetzung ist das Gerücht die Botschaft. Der Bluff der Androhung einer möglichen Spaltung dient dazu, dem Unbehagen der Unionsrechten Ausdruck zu verschaffen.

Im Wirtschaftsflügel der Union und bei den verbliebenen Nationalkonservativen herrscht spürbar Verstimmung über die gegenwärtigen Handlungsspielräume. Zu stark sei inzwischen der sozialdemokratische Einfluss auf die christlich-konservativen Inhalte. Wer im Wahlkampf 2005 mit dem Ziel antrat, im forcierten Reformtempo »durchregieren« zu können, wurde am Berliner Kabinettstisch an das alte Wort von Max Weber erinnert, wonach Politik das geduldige »Bohren dicker Bretter« sei. Die Leidenschaft für eine neokonservative Abkehr vom ewigen Kompromiss- und Konsensprinzip des deutschen Korporatismus ist dem Frust gewichen. Und auch wenn sozialwissenschaftliche Untersuchungen in schöner Regelmäßigkeit von großer Zustimmung zu rechtskonservativen und autoritären Ansichten berichten, steckt die farblose Rechte der CDU in einer personellen Krise.

Exponierte Nationalkonservative wie Martin Hohmann oder Henry Nitzsche konnten sich nicht durchsetzen und haben die Partei nach kurzen Kontroversen verlassen. Auch stramme Wertkonservative wie der brandenburgische General und Parteivorsitzende Jörg Schönbohm haben inzwischen den Rückzug angetreten und einen von Flügelkämpfen gelähmten Landesverband zurückgelassen. Die Rechte wird derzeit durch Randfiguren aus der zweiten Reihe der Partei wie den Vorsitzenden der Jungen Union und Bundestagsabgeordneten Philipp Mißfelder vertreten, von dem man lediglich weiß, dass er alten Menschen keine Hüftgelenke »auf Kosten der Solidargemeinschaft« gönnt.

Sogar liberale Politiker richten besorgte Blicke nach Nordrhein-Westfalen, dessen Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) das Gegenmodell zur aggressiven Wirtschaftspolitik von Merz repräsentiert. In einer Rede über »Europas Rolle in einer neuen Weltordnung« vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin sprach sich Rüttgers gegen ein »rein angelsächsisch geprägtes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell« aus. Der Rekurs auf den »rheinischen Kapitalismus« sicherte Rüttgers den Erfolg im von der SPD geprägten Nordrhein-Westfalen. Die Welt spottete jüngst, Rüttgers sei der »bekannteste sozialdemokratische Politiker seines Landes«.

Sozialpartnerschaft und Konsensprinzip in Politik und Wirtschaft, die Regulierung des Marktgeschehens und die Erhöhung der Staatsquote sind die Essentials dessen, was als »rheinischer Kapitalismus« gilt. Wie zuvor Rot-Grün setzt auch die Große Koalition unter diesen Vorzeichen eine entschärfte Variante der Agenda 2010 durch, um bereits erreichte Reformen nicht durch die Überforderung der Betroffenen zu gefährden.

Merz wirkt da wie ein Störfaktor. Der Wirtschaftsanwalt steht für ein Programm, das noch aus jedem heimatverbundenen Lohnabhängigen einen dauermobilen Global Player ohne Aussicht auf Pendlerpauschale machen will. Als jemand, der »deutsche Leitkultur« und internationale Wirtschaftstätigkeit verbinden wollte, stand er etwas untypisch zwischen erzkonservativer Union und neoliberaler FDP. Der konservative Selbstwiderspruch zwischen Heimattümelei, Familienförderung und Deregulierung des Sozialen interessierte ihn dabei wenig.

Die Klientel, die die Merz’sche Klassenpolitik besonders goutiert, ist in den Wahlkabinen nicht mehrheitsfähig. Merz, der sich zwar als Direktkandidat mit deutlicher Mehrheit gegen den Konkurrenten aus der SPD durchsetzen konnte, hat seinen wichtigsten Platz nicht in seinem Wahlkreisbüro, sondern in zahlreichen Aufsichtsräten der Großkonzerne, von der BASF AG bis zur Commerzbank. Konservative aber, die primär für einen Klassenkampf von oben stehen, sind nicht attraktiv. Rechts von Rüttgers hat das bürgerliche Lager Anschlussprobleme an breite Wählerschichten.

Irreführend wäre es jedoch, die Klagen von Merz und Co. für bare Münze zu nehmen. Dass die CDU in der Großen Koalition trotz ständiger Zumutungen für die Bevölkerung in der Politik und der Publizistik als mitgliederstärkster Flügel der angeblich allumfassenden deutschen Sozialdemokratie gehandelt wird, ist der Beleg für eine allgemeine Entwicklung nach rechts, die in den letzten Jahren stattgefunden hat. Während in Talkshows, im Feuilleton und im Kabinett über die langsame Realisierung der Reformen gestritten wird, werden nicht nur Hartz-IV-Empfänger schnell auf Null gesetzt. Der Frust über das zu langsame Tempo der Reformen verdeckt, wie rasant sich die soziale Lage derjenigen verschlechtert hat, die ganz andere Anlässe zur Frustration haben als Merz und seine politischen Freunde.