Diktatur des Proletariats

Armut liegt im Trend. Und wer nicht mithalten kann oder will, hat ein Problem. stefan frank über verachtete und vergessene Reiche und die Tricks der Armen, ihre Armut zu vergrößern

Tag für Tag erscheinen in Deutschland hunderte Zeitungen und Zeitschriften. Sie haben Millionen von Lesern, und die Zahl der dort meist mit großem Sachverstand von Experten diskutierten Themen ist so groß wie die der Bakterien auf dem Griff eines Einkaufswagens. Aber auch in unserem Zeitalter der Aufklärung, in dem »Tabus« und »Denkverbote« unbarmherzig abgeschafft werden, gibt es ein drängendes gesellschaftliches Problem, über das kaum jemand öffentlich zu sprechen wagt: »Vermö­gen­de in Deutschland genießen geringes Ansehen«, klagt Alexander M. in der aktuellen Ausgabe der Betroffenenzeitschrift Die Bank – Zeitschrift für Bankpolitik und Praxis.

Als »persönlich haftender Gesellschafter bei Merck Finck & Co, Privatbankiers« hat er stets nur Verachtung und Ausgrenzung erfahren. Jedes Mal, bevor er die Tiffany-Filiale in der Frankfurter Goethestraße betritt, schaut er sich um, ob ihn niemand sieht. Denn er weiß: »Reichtum ist ein Imageproblem mit fatalen Folgen.« Viele seiner Freunde hat Alexander M. verloren, denn Wohlhabende wanderten »zunehmend ins Ausland ab«. Von denen, die sich eigentlich um seine Sorgen kümmern sollten, fühlt er sich im Stich gelassen: »Was tut die Politik dagegen? Sie schaut passiv zu.«

Schon vor zwei Jahren versuchte Andrea S., eine Kommentatorin der Welt, die Öffentlichkeit aufzurütteln: »Reiche haben keine Lobby.« Schlimmer noch, der Begriff »reich« sei »so diskreditiert in Deutschland, dass niemand sich freiwillig und öffentlich mit seinem Vermögen brüstet oder gar Stolz zeigt«.

Aber es hilft nicht, vor dem eigenen Reichtum die Augen zu verschließen und über das heikle Thema Geld den Nerzmantel des Schwei­gens zu werfen, warnen Psychologen. Auch Alexander M. hat es nach langem Leiden endlich erkannt: »Niemand muss sich schämen, weil er mehr Vermögen besitzt als andere.« Das tatsächliche Ausmaß des Reichtums in Deutsch­land liegt im Dunkeln, da viele Reiche den Gang zum Finanzamt scheuen, sei es aus Scham oder aus Unkenntnis der Gesetzgebung.

Dass es in Deutschland keine Schichten gebe, wie Arbeitsminister Franz Münte­fering behauptet, klingt in den Ohren der Reichen wie Hohn. Denn sie sehen jeden Tag die Klassenschranke zwischen sich und den anderen. Armut wird immer populärer. Wie die im Dezember 2006 vorgestellte Haushaltsbefragung »Leben in Europa« des Statistischen Bundesamtes ergab, gibt es in Deutschland 10,6 Millionen Anwärter auf Armut, also Menschen, die sich vorgenommen haben, von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (856 Euro) zu leben.

Wie es bei durchschnittlichen Hartz-IV-Abonnenten zu Hause aussieht, ist inzwischen gut erforscht; weniger bekannt sind die Tricks, mit denen einige von ihnen ihr verfügbares Einkommen noch einmal um 30 Prozent und mehr reduzieren. Wer clever ist, wird chronisch krank. Da die Mehrbedarfszuschläge abgeschafft wurden, kann der Lebensstandard auf diese Weise beträchtlich gesenkt werden.

Auch wer arbeitet, muss nicht unbedingt auf Armut verzichten. Den Angaben des Instituts Arbeit und Technik Gelsenkirchen zufolge arbeiten in Deutschland mindestens sechs Millionen Menschen für Stundenlöhne unter der Niedriglohnschwelle, die in Westdeutschland bei 9,83 Euro und in Ostdeutschland bei 7,15 Euro liegt.

Einen deutlichen Unterschied gibt es zwischen Frauen und Männern. Wie das Institut für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen ermittelt hat, arbeitet fast jede dritte vollbeschäftigte Frau in Deutschland für Niedriglöhne, von den vollbeschäftigten Männern hingegen nur jeder zehnte. Zähle man auch die Geringverdienenden in Teilzeit- und Minijobs hinzu, liege der Anteil von Frauen im Niedriglohnsektor bei fast 70 Prozent. Über eine Million Minijobber sind über 60 Jahre alt, denn »wenn man älter wird, muss man mit Bewusstsein auf einer gewissen Stufe stehen bleiben«, sagt ja auch Goethe in seinen »Maximen und Reflexionen«.

Immer größer wird die Gruppe derer, die dem Materiellen völlig entsagen und ihre Arbeitskraft kostenlos zur Verfügung stellen. Einer von der DGB-Jugend in Auftrag gegebenen Studie zufolge vermeiden 37 Prozent der Hochschulabsolventen drohende Erwerbstätigkeit durch ein Praktikum. Viele suchen sich zudem Jobs, die mit ihrer beruflichen Qualifikation nichts zu tun haben, und steigern auf diese Weise die Chancen von Haupt- und Realschülern, nicht arbeiten zu müssen.

Noch besser dran sind ausländische Studenten, denen der um ihre körper­liche und seelische Gesundheit besorgte Gesetzgeber vorschreibt, dass sie nur 90 Tage im Jahr arbeiten dürfen. Sie erhalten kein Bafög, bekommen in der Regel nur wenig oder gar kein Geld von ihren Eltern, und die Banken geben ihnen keine Kredite. Wenn es jemandem in einer solchen Situation gelänge, 500 Euro Studiengebühren pro Semester zu zahlen, müsste dies nicht seinem Glauben an Gott unendlich viel Kraft verleihen?

Immer wieder ist zu hören, dass nirgendwo auf der Welt die Gewerkschaften so mächtig seien wie in Deutschland. Wenn ein VW-Arbeiter Sorgen hat, braucht er bloß in Brasilien anzurufen, schon helfen der Betriebsratsvorsitzende oder eine seiner Tänzerinnen ihm weiter. Eine solche Macht müsste sich auch in der Lohnentwicklung niederschlagen, denkt man. Und das tut sie auch. In keinem anderen westeuropäischen Land ist es den Gewerkschaften in den vergangenen Jahren gelungen, so niedrige Tarifab­schlüs­se zu erzielen wie hierzulande. Während die Reallöhne in Schweden und Großbritannien seit dem Jahr 1995 um über 30 Prozent gestiegen sind, sind sie in Deutschland im selben Zeitraum gesunken. Auch wenn man in der Statistik bis 1990 zurückgeht, ergibt sich ein Minus – selbst dann, wenn man zur Errechnung des Reallohns die amtliche Inflationsrate zugrunde legt.

Wer für den Posten »Wohnung, Wasser, Elektrizität, Gas und andere Brenn­stoffe« mehr ausgibt als 27 Prozent seines Einkommens und womöglich auch noch in einem Ballungsgebiet lebt, in dem die Mieten überdurchschnittlich stark gestiegen sind, passt nicht zur Statistik und sollte umziehen. Auch sollte man sich davor hüten, mehr als 13 Prozent für »Nah­rungs­mittel und alkoholfreie Getränke« auszugeben (davon lediglich ein Zehntel, also insgesamt 1,3 Prozent, für Gemüse – was mögen Ernährungswissenschaftler dazu sagen?) oder mehr als drei Prozent für »Gesundheitspflege«. Denn dann käme man rasch auf eine viel höhere Inflationsrate und auf einen entsprechend hohen Reallohnverlust; man würde vielleicht am Ende die Gewerkschaftsführer beschämen, wenn man sie mit der wahren Größe ihrer Leistungen in den letzten anderthalb Jahrzehnten konfrontiert.

Zwar tut die IG Metall in diesen Tagen, als wolle sie 6,5 Prozent mehr Geld. Am Ende aber wird sie wie in den letzten Jahren einen Abschluss durchsetzen, der deutlich unter vier Prozent liegt. Im Jahr 2015 wird man sagen können: Die Reallöhne sind seit 25 Jahren nicht gestiegen. Martin Kannegiesser, der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, findet das gut: »Sonst wird der Lohnabstand zu Ländern wie Polen noch größer.« Und das kann niemand wollen. Alexander M. jedenfalls weiß: »Kaum jemand bringt Wohlhabenden Sympathien entgegen.«