Nur net ignoriern

Die Jungle World darf keine Zeitung werden. Ein bunter Geburtstagsstrauß von stefan ripplinger

Zeitunglesen verdummt. Das ist keine Fehlentwicklung, sondern Zweck der Sache. Wer eine Zeitung abonniert hat, will nichts Neues erfahren, sondern durchaus immer wieder das Alte. Er will heute der sein, der er gestern schon war. Wer aber heute der sein will, der er gestern schon war, neigt zur Dummheit. Er muss leugnen, dass Zeit vergeht. Die Zeit wird ihm zur Zeitung, die alles, was sich verändert, in immer dieselben Spalten zwingt.

Deshalb wird der gewöhnliche Zeitungleser am Feiertag, wenn nicht einmal das Sonntagsblatt erscheint, so kribbelig. Er will informiert, also in die alte Form gebracht werden. Erscheinungen, die ihm sonst unerklärlich blieben, müssen zum Teil der Wirtschaftsseite oder des Lokalteils werden. Was Putin gerade tut, soll ihm der Putinkenner seiner Wahl erklären. Was Neuigkeit sein könnte, soll sich in Nachrichten und Gefallen auflösen. Selbst das Wetter ist ihm ohne Wetterbericht nicht ganz geheuer.

Wer bleibt, der er ist, bleibt dumm. Das ist der Makel von Systemtheorie und Gottesdienst. Sie halten in Form, aber sie regen nicht an. Sie ergänzen, aber sie erneuern nicht. Sie sind wie Zeitungen oder die »Tagesschau«. Nun gibt es auch ein Recht auf Dummheit – denn wer wollte schon auf der Höhe dieser Zeit oder gar ihr voraus sein? –, aber es beschäftigt viel zu viele Anwälte. Dass es auch eine Lust wäre, die Zeitung aufzuschlagen und nichts mehr zu verstehen, dass es eine Lust wäre, gäbe sie einem zu denken statt nur das tägliche Sedativ, wissen nur wenige. Es wäre eine solche Zeitung aber auch keine richtige mehr und die Welt nicht mehr die alte oder junge Welt. Es handelte sich dann ernsthaft um eine »jungle world«. Genau das war die Idee.

Ich behaupte, am Anfang hat sie gezündet. Und sie zündet bis heute immer wieder. Aber sie ist weltfremd. Mit einem fortgesetzten épater l’abonné lässt sich keine Zeitung vermarkten. Man muss auch den geduldigsten Lesern am Ende geben, was sie hören wollen. Wenn Oettinger nur ein Schurke sein kann, muss die Zeitung schreiben, Oettinger sei ein Schurke. Mag die Messe ausfallen, die Kirche bleibt im Dorf. Anfangs wollte zwar niemand lesen, was die Jungle World schrieb. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis Kleinanzeigen erschienen, in denen es hieß: »Linke WG in P’berg sucht bewegteN MitbewohnerIn, Antiimps und Spinner müssen draußen bleiben. Abos: taz, Jungle World. Melden unter ­deutschlandmusssterben@gmx.de«.

Beunruhigender noch war, dass man manches Mal, wenn eine Großdemonstration der Globalisierungsgegner, ein Riot in der Banlieue, ein Streik von Verdi oder ein SPD-Parteitag anstand, schon erraten konnte, wie das Ereignis am Mittwoch darauf kommentiert werden würde. In einer Zeit, in der Sozialisten die Nation protegieren, in der Sozialdemokraten das Land zu Lasten der Ärmsten reformieren wollen und in der das einst linksliberale Bürgertum zu einer Rotte von Ökofaschisten geworden ist, die den Genuss von Fett und Tabak unter Strafe stellen will, freut es, dass wenigstens eine Redaktion sich nicht beirren lässt. Aber Kritik wird nicht besser, wenn sie wiederholt wird, im Gegenteil, sie verfällt.

Überraschungen gab es in der Jungle World selten, sie wurden sogar immer seltener, wenn auch die antizyklische Themensetzung viel wett macht. Spricht alle Welt von Sarkozy, macht Jungle World mit der Türkei auf. Das finde ich gut.

Dagegen kam es einem Akt der Verzweiflung gleich, das frenetische Schwenken von Nationalwimpeln während der Fußballweltmeisterschaft drollig zu finden. Das überraschte wohl den dogmatischen Leser, aber eine überraschende Meinung war es dennoch nicht, denn sie stand ja exakt so auch in allen andern Zeitungen. Wäre die Jungle World aber wie alle andern, wäre sie so überflüssig und ärgerlich wie diese. Im Gegenteil ist sie verdammt dazu, anders und besser zu sein.

Wird das Anderssein aber zu einer bestimmten Negation, erhält es dadurch etwas Steifes und Abhängiges. Sicher, man verspürt nicht selten die Lust, jedem Wort eines Deutschlandfunk-Kommentars einzeln zu widersprechen (besonders, wenn der Chef­redakteur am Mikrofon ist). Aber klüger ist es, das Radio abzustellen. Beschränkte sich die politische Kritik darauf, immer genau das Gegenteil dessen zu statuieren, was die opinion leaders verkünden, käme sie doch niemals über deren erbärmliches Niveau hinaus. Besser wäre es, sie zu ignorieren. Aber wie sollte es möglich sein, mit einer Zeitung nicht zu reagieren? Das ist die Schwierigkeit. Eine Zeitung kann sich keine neue Welt erfinden, sie muss auf die alte reagieren und nimmt, auch wenn sie es nicht will, darüber deren Farben und Formen an.

In ihren Anfängen stieß sich die Jungle World von der linken Welt ab, und das war mehr als überfällig. Wer links ist, hat mit den Linken ein Problem. Denn er muss früher oder später erkennen, dass die Linken, oft nicht einmal kaschiert, genau das vertreten und verkörpern, was er ablehnen muss, doch, anders als die Rechten, ohne jede Scham. Sie sind Nationalisten, aber wegen des Proletariats, ihre Abneigung gegen Schwache und Marginalisierte glaubt Marxsche, zur Not Leninsche Argumente hinter sich, ihr Antisemitismus und Antiamerikanismus kennt historische Gründe. Begegnet dir ein Faschist, der selbst die jüngere Geschichte auf seiner Seite wähnt, hast du vermutlich einen Linken vor dir.

Die Lunte glomm seit längerem, und es hat sich gelohnt, bei der Explosion dabei zu sein. (Ich meine die Besetzung der Redaktionsräume jener Tageszeitung, aus der die Jungle World hervorging.) Damals verwarf ich mein Credo, Erfahrung spiele keine Rolle. Doch, diese Erfahrung musste man gemacht haben. Man musste hören, wie die früheren Kollegen mit einem Mal ihren Ressentiments gegen den entmachteten schwulen Chefredakteur Luft machten; man musste den österreichischen Genossen hören, der im Rausch homophobe Verwünschungen und sadistische Phantasien auf den Anrufbeantworter zischte; man musste den Poplinken sehen, der die Situation für sich zu nutzen verstand, aber auch den einen, einzigen Altredakteur, der aus Anstand – nicht aus politischem Kalkül, einzig und allein aus traditionellem, konservativem, meinetwegen reaktionärem Anstand – auf unserer Seite blieb. Den Spiegel-Redakteur musste man lesen, der unseren Aufstand verhöhnte und, wie er es gewohnt ist, dem Eigentümer applau­dierte. Vor allem aber musste man erleben, dass der Berliner Gewerkschaftssekretär für uns Streikende nicht zu sprechen war, aber gleichzeitig Streikbrecher warb.

Hier endete der Glaube an die »Solidarität«. Denn der Mann war ja solidarisch, nur nicht mit uns. Es zeigte sich, dass der stete Appell der Linken, es gelte, »Strukturen zu organisieren«, durchaus Früchte gezeitigt hat. Diese Strukturen gibt es. Sie dienen dazu, jede emanzipative Regung, jeden neuen Gedanken im Keim zu ersticken.

All diesen Erfahrungen sollten noch viele bittere Erkenntnisse folgen. Die gründliche Durchsicht der Geschichte der Linken, nicht einmal der russischen oder chinesischen, nein, allein der deutschen, fördert Abstoßendes mehr als genug zutage. Sich dieser Geschichte kritisch, kenntnisreich und kompromisslos gestellt zu haben, ist das größte Verdienst der Jungle World. Denn es war abzusehen, dass nicht viel übrig bleiben würde.

Es kann schon sein, dass dabei die andere Seite, die Geschichte der hegemonialen Mächte, mitunter unscharf wurde. Die Frage, was die RAF, diese Pastorentochter-Initiative, in der heutigen Diskussion zu schaffen hat, muss gestellt werden, auch wenn sie nostalgische Gefühle verletzt. Aber ihre Geschichte ohne die des postfaschistischen Staates und der Mobilisierung des Heroldschen Apparates zu betrachten, ist fahrlässig. Zu schreiben, ein Mann sei in einem Vierteljahrhundert Zucht­haus nicht klug geworden, ist schlicht gedankenlos und wäre es auch dann gewesen, hätte die Bemerkung sich statt auf Christian Klar auf Rudolf Hess bezogen.

Wer sich zu sehr in die miefige Vereinsgeschichte der Linken vertieft, dessen Kleider nehmen mit der Zeit den Mief an. Man muss die Linke irgendwann ihrem elenden Schicksal überlassen. (Das ist eine Lehre, die ich aus Joachim Rohloffs Buch »Wenn man dich nicht fragt, sag nein« ziehe; kein besseres ist über die jüngere deut­sche Linke geschrieben worden.) Auch sollten Aufklärung und Rationalismus nicht überschätzt werden, denn auf Einsichten kommt es vielleicht weniger an als auf Empfindlichkeit. Hat nicht Jürgen Elsässer schlicht alles über die radikale Linke und ihre Abgründe gewusst? Das hat ihn nicht davon abgehalten, am Ende selbst den Beweis für seine Thesen anzutreten. Der Fall zeigt auch, dass keine Szene sich gegen Infektionen von Autoritarismus und Antisemitismus immunisieren kann. Er impft ein Misstrauen gegen uns selbst und unsere Freunde ein.

In seinen letzten Jahren gab Louis Althusser ein Gleichnis, das mir sehr gefällt: Die Hegelianer glaubten das Kursbuch der Geschichte zu kennen und warteten auf einen Zug, der nie eintraf. Der Materialist springt auf den nächsten besten auf und geht von Abteil zu Abteil, um sich mit den Passagieren zu unterhalten. Wohin die Reise geht, weiß er nicht. Man kann also im falschen Zug sitzen und dennoch auf dem richtigen Weg sein.

Nur wenige Hinweise gab Althusser darauf, ob Künstler an Bord sind und welche Rolle ihnen zufällt. Ist Kunst bloß ein Teil der herrschenden Ideo­logie? Oder stört und unterbricht sie, was sich täglich reproduziert? Seine Antwort fiel salomonisch aus. Zwar spiegele Kunst die Ideologie (sein Beispiel ist Balzac), aber auf eine Weise, die diese decouvriere.

Das sind schwierige Fragen, die vermutlich gar nicht am Platze sind. Denn Kunst gehört zum Letzten, was die im Schnitt unter 30jährigen Leser der Jungle World interessiert, es sei denn radikal linke Kunst. Über diese notierte Max Raphael, wahrlich ein links denkender Mann, im September 1915: »Keiner bringt einem heute so deutlich bei, was nicht Kunst ist, als die sozialistischen Künstler. Und da es kaum fünf echte gibt, sollte die Welt schließlich wissen, was Kunst nicht ist.«

Ein paar Jahre später gab es wesentlich mehr als bloß fünf sozialistische Künstler. Waren sie ernsthaft Sozialisten, ging ihre Kunst folgerichtig in Design und Propaganda über. Das war im russischen Futurismus so, im Berliner Dadaismus und auch bei dem Teil der surrealistischen Gruppe, der in die Partei ging. Nach dem Krieg riefen alle politisch Bewussten zur Abschaffung von Kunst auf, aus einem Filmabend mit Rosa von Praunheim ging die Schwulenbewegung hervor, Peter-Weiss-Lesegruppen stifteten Gemütlichkeit. Man wollte, aus guten Gründen, nicht Kunst, sondern etwas Nützliches machen. Wer sozialistischer Künstler ist, will auf vielerlei Weise zeigen, was nicht Kunst ist.

Vielleicht ist damit alles zum Besten bestellt. Das sowjetische Design sticht die bürgerliche Kunst der Zeit aus, die Petitionen, die Aragon unterschrieb, waren nobel zum größeren Teil, seine Propagandaverse so übel nicht, und wenn Günter Grass gegen die Asylgesetze agitiert, leistet er mehr, als wenn er schlechte Romane schreibt. Wäre es dann nicht eine lohnende Aufgabe für die Autorin und den Autoren der Jungle World, Kunst Kunst sein zu lassen und sich lieber wie ein Althusserscher Reporter im fahrenden Zug, gewissermaßen im »Bordrestaurant« oder Party-Abteil, umzuschauen? Was läuft im Fernsehen? Was spielt Top of the Pops? Was trägt der linke Underground?

Manchmal amüsiert mich das, oft genug langweilt es mich aber. Aus einem einfachen Grund: Was läuft, finde ich so uninteressant, dass mich nicht einmal zu erfahren interessiert, weshalb es mich nicht zu interessieren braucht. Die Kulturkritik ist ohnehin Teil der Kultur, die sie kritisiert; Adorno brachte Botho Strauß und, oh Gott, vermutlich auch Bazon Brock hervor.

Ad Reinhardt, Künstler und Sozialist, wenn auch kein sozialistischer Künstler, dekretierte: »Art is art. Everything else is everything else.« Die Jungle World kann um ihrer jungen linken Leser willen gar nicht anders, als sich immerzu um »everything else« zu kümmern. Ich tu’s nicht. Aber ich zähle mich auch nicht zur Zielgruppe. Die Jungle World kann für all die mehr als eine Zeitung sein, die sie nicht bereits seit zehn Jahren lesen. Zwar halte ich es für ausgeschlossen, dass andere, Nachwachsende, aus unsern Fehlern lernen könnten, aber dank der Jungle World wissen sie jedenfalls, dass es eine Welt jenseits von taz und FAZ gibt. Ob es eine bessere ist, weiß ich gar nicht, aber ihre bloße Existenz wirft die wichtige Frage auf, ob die bestehende die beste unter allen möglichen ist.