Schnelles Lesen

Durch viele Meter Bücher musste sich der Kritiker jörg sundermeier in all den Jahren lesen. Was hat sich gelohnt? Und wie hat sich der Buchmarkt verändert?

Wenn wir über die deutsche und die deutsch­sprachige Literatur der vergangenen zehn Jahre reden wollen, worüber reden wir dann? Darüber, dass Peter Handke schon wieder ein Preis nicht zuerkannt worden ist, weswegen sich ganz Antiimperialien erneut die letzten Cents abgespart und diese Handke überlassen hat, der daraufhin allerdings – schon beinahe frech – alles wieder an die »Opfer« weitergereicht hat? Reden wir über ein post-, ein dochnocheinbisschenanti- oder ein neobürgerliches Feuilleton, in dem griesgrämige Nichtleser, die Woche für Woche übers Fernsehprogramm schreiben wollen, jedoch über Literatur schreiben müssen, es sich allen Ernstes anmaßen, die Werke einer Marlene Streeruwitz oder gar einer Elfriede Jelinek wie nebenher und ohne Kenntnis zu besprechen, heißt: zu verreißen, einfach, weil die Weiber keine Männer sind und allzu oft die Wahrheit sagen, die sich nun mal nicht einfach mit zwei bis sechs griffigen Formeln erfassen lässt?

Wollen wir gar über Günter Grass reden, der zunächst sein selbst die allzu Nachsichtigen verstörendes Erzählwerk »Mein Jahrhundert« veröffentlichte, dessen Titel bereits Größenwahn vermuten ließ? Und der darauf seinen xten Beitrag zur offensichtlich nicht abschließbaren, einst so genannten »Dan­ziger Trilogie« folgen ließ, die vom Verlag zur­zeit als »Das Dan­zig Sextett« beworben wird, nämlich das Vaterland, Faschismus und deutsche Opfer bemitleidende, absurderweise als »Novelle« verkaufte Unding »Im Krebsgang«? Und der sich, nach den zwischendurch hingegrunzten und auch noch illustrierten ekligen »Letzten Tänzen«, seine Krokodilstränen abnötigte, die ihm das »Häuten der Zwiebel« beschert haben sollte? Der das alles zum Ereignis wieder und wieder zu machen verstand, mithilfe eben jener Medien, die er andererseits immer wieder dafür schilt, dass sie ihn nicht genug beachten? Und der sich schließlich auf der vorigen Leipziger Messe mit einem Haufen Gelegenheitslyrik als »Dummer August« vorstellte?

Oder sollte sein neuerdings innig geliebter Freund und ehemaliger Konkurrent Martin Walser unser Thema sein, obschon Joachim Rohloff bereits alles Wissenswerte zu ihm gesagt hat? Wäre es gar angebracht, sein pornografisches Alterswerk namens »Angstblüte« zu behandeln, das niemanden begeistern konnte, abgesehen von einigen wenigen, die immer, leicht errötend, »Hihi« hinter der vorgehaltenen Hand machen müssen, wenn jemand das Wort »Fotze« schreibt? Müssen wir das Drama namens Henscheid erwäh­nen, eines, in dem es tatsächlich einmal eine Fallhöhe hat, kraft welcher Meister Eckhard, der sich einzig ­seiner Selbstliebe wegen zum Deppen wandelte, all jene, die sich talentiert, aber selbstverloren an seine Rockzipfel hängten, mit sich herabreißen konnte in eine Hölle aus Bieder­sinn und Bierblödigkeit?

Sollen wir über Ernst Wilhelm Händler reden, der durchaus etwas kann, doch deshalb doch nicht gleich mit schönster Regelmäßigkeit zum »neuen Musil« ausgerufen werden muss? Muss etwa ernsthaft noch über Maxim Billers Hysterien geredet werden, über Joachim Lottmann, der in seinem Sumpf von Dummheit gleich den einzigen lebenden konservativen Vitalisten, der schrei­ben kann, Rainald Goetz, noch mit ertrinken lässt, einfach, weil letztgenannter sich gern mit hineinwirft in den Schlamm? Wollen wir über Durs Grünbein rechten, der von Gottfried Benn die Pose geklaut und das Lügen gelernt hat? Kann sich noch jemand an die Werke von Benjamin von Stuckrad-Barre, Moritz von Uslar, Alexander von Schönburg, Alexa Hennig von Lange und Ännchen von Tharau erinnern, die gemeinsam mit anderen gleichermaßen unsensiblen Sensibelchen am Pool, in Indien oder sonstwo herumlagen, um über Koks, Krawatten und Krieg bzw. Familie, Faschismus und Ficken zu parlieren? Gibt es, anderer­seits, den »Werkkreis Literatur der Ar­beitswelt« noch, oder sind heuer die Autoren der Attac-Manifeste für bzw. »über« das irgendwie vielleicht bes­sere Leben als Erben dieser Literatur aufzufassen?

Sollten wir gar kostbare Zeit verschwenden beim Gespräch über jene Junglyriker, die, damit sie fürderhin, von allen Zweifeln ungeplagt, schreiben können, erst gar nicht angefangen haben, zu lesen und sich zu bilden? Wollen wir über das Wort »Jugend« ganz allgemein und unverbindlich reden, bei dessen Nennung die Bienen und Baumeister in der Welt des Geistes vor Verzückung aufschreien und, noch vor dem ersten veröffent­lichten Gedicht, der ersten Erzählung oder gar dem ersten Buch, mindestens zwei Fern­sehdokumentationen über den jungen Schrift­steller senden und ihn selbstredend mit Goethe-, Büchner-, Bachmann- oder Nos­sack-Preisen überhäufen?

Nein, das alles wollen, müssen, können und sollen wir nicht. Denn das, was hier skizziert wurde und für alle hier namentlich genannten Au­toren auch noch gilt, gilt nicht mehr für jene, die in den vergangenen – sagen wir mal fünf – Jahren zum ersten Mal auf sich aufmerksam machen konnten. Der Buchmarkt und das Feuilleton, in dem früher vor allem jenes ein Anrecht auf Erfolg hatte, was bereits groß und stark war, oder aber jenes, was von Großen und Starken protegiert wurde, und alles andere zumindest ein Anrecht hatte auf hätschelnde Würdigung einiger Wohlmeinender, mithin das Abseitige, Kleinefeine, das Niedliche und das Doofe – diesen Buchmarkt und dieses Feuilleton gibt es nicht mehr.

Seit Jahrzehnten schon ist die Kritik dem Verbrauchertipp gewichen, doch hielten sich noch alte Verkehrsformen, welche etwa besagten, dass jener, der einmal etabliert ist, sich schon sehr anstrengen muss, um späterhin wieder gänzlich erfolglos zu wer­den, eben, weil es üblich war, dass Verlage, Institutionen, Rezensen­ten und Buchhändler ­jenen, die sie für Produ­zen­ten wertvoller ­Literatur ­erachteten, gewissermaßen treu blieben und sogar solche Werke eines Autors priesen, ins Regal stellten oder zumindest wahr­nahmen, die sie selbst nicht mehr lesen woll­ten, einfach, weil das »Gesamtwerk« dieses Autors ihre früheren Ge­schmacks­urteile bestätigen musste, ihre »Nase« erweisen, aber auch, da es sich einfach »so gehörte«. Damals wurde man noch, wenn man es wurde, »enttäuscht« von einem Autor. Heute wird man »enttäuscht« von einem Produkt.

Denn nun lassen Verlage die Autoren fallen, Autoren verlassen die Verlage, wenn jemand an­deres sie lockt, die Einkäufer in den größeren Buchhandlungen schließlich wollen und können solche Begriffe wie »das Werk« nicht mehr benutzen, sie kennen und anerkennen nur noch einzig: die Ware.

Daher sind Leute wie Christian Kracht oder Thea Dorn jetzt darauf angewiesen, schnell neue Produkte nachzulegen und diese mithilfe des Verlages so zu inszenieren, dass sich ihren Freunden beim Spiegel das Wort »Ereignis« auf­drängt.

Für das alles gibt es eine so simple Ursache, dass sie kaum recht ins Auge fällt, und das ist die Entwicklung der Lagerkosten. Einer merk­würdigen kapitalistischen Logik folgend, wollen nämlich die Verlage, ganz so, wie’s das Steuerrecht nahe legt, immer wachsen und gedeihen und sich nicht etwa ausruhen auf dem Geld, das sicher eingenommen wird mit den schon bestehenden Rechten und Lizenzen. Andererseits ist allerdings die Marge im Buch­handel recht klein, man presst noch immer eine CD für weniger Geld als man ein Taschen­buch druckt, dennoch steht es – weil man von Seiten der Verlage lange gezögert hat, die Preise zu erhöhen – für die Kundschaft unumstößlich fest, dass ein Taschenbuch billiger sein müsse als eine CD. Diese Annah­me, die der Buchhandel selbst hervorgebracht hat, zwingt die Verlage zu Sparmaßnahmen.

Da jedoch in großen Teilen der internen Verlagsverwaltung bereits sämtliche Einsparmöglichkeiten ausgeschöpft sind, hat man sich seit Mitte der neun­ziger Jahre darauf verlegt, die Lagerbestände der Verlage abzubauen und den Gebrauchtbuchmarkt regelmäßig mit superbilligen »Mängelexemplaren« zu fluten, dieweil man sich bei der Programmgestaltung zunehmend darauf verlegt hat, so genannte Schnelldreher zu publizieren, die zwei, drei Jahre Aufmerksamkeit und Verkäufe garantieren und hernach die Lagerkosten nicht mehr qua Existenz erhöhen. Die Kundschaft aber, durch das sonstige Discountkundenleben eh schon an die Verderblichkeit von eigentlich unverderblichen Waren wie Bekleidung, Möbeln oder Telefonen gewöhnt, glaubt nun auch, dass der Wert eines neuen Buchs mit der Zeit sinke, eben weil es nichts anderes mehr sei als ein »aktuelles Buch«.

Auf diese Weise hat sich der Buchmarkt dergestalt verändert, dass jene Schriftsteller, die sich heute noch mit ihren Herzergießungen als Bereicherung des Literaturstandorts Deutschland begreifen dürfen, morgen schon wieder vergessen sind, sofern ihnen nicht irgendein neuer Kniff einfällt, mit dem man sowohl den »aktuellen Roman« wie auch ein paar Hand voll ihrer älteren Werke bewerben kann. Der Autor ist also zur permanenten Vermark­tung seiner selbst und zur Befeuerung eines Literaturspektakels angehalten, das seines nicht ist. Er muss so schreiben, wie er verkauft werden kann.

Das war früher nicht anders, nur wird der Abstand zwischen dem, was in der Nische vielleicht noch ein Plätzchen findet, und dem, was seinen Autor auch ernähren kann, immer schneller immer größer. Zwischen Hobby- und Unterhaltungslitera­tur, die als »gehobene« gelten darf, klafft ein immer größeres Loch.

Selbstverständlich gibt es Ausnahmen. Doch die hier skizzierte Veränderung auf dem Buchmarkt ist die folgenreichste in der deutschsprachigen Literatur der letzten zehn Jahre. Und selbst­verständlich jene, über die am seltensten gesprochen wird.