»Wir haben viele vor den Kopf gestoßen«

Einfach mal auf einen Kaffee ins Korrekturzimmer gesetzt und ein Tonband angeschaltet. Kein Resümee, keine Perspektivkonferenz. Ein Plausch unter Kolleginnen und Kollegen

Klaus Behnken war Chefredakteur der Tageszeitung junge Welt bis zum Putsch 1997 und Mitbegründer der Jungle World, wo er bis 2000 Chef vom Dienst war. Seit Februar liest er Korrektur bei der Jungle World.

Bernd Beier ist seit 2003 Chef vom Dienst. Er war schon bei der jungen Welt dabei, damals als Auslandsredakteur, und gehört ebenfalls zu den Gründern der Jungle World.

Federica Matteoni ist Redakteurin im Ressort Euro, künftig Ausland, und kam 2003 zur Jungle World.

Regina Stötzel arbeitet seit dem Jahr 2001 als Redakteurin im Ressort Innenpolitik.

Das Gespräch moderierte Ivo Bozic, seit 2004 Thema-Redakteur. In der jungen Welt war er bis 1997 Inlandsredakteur und gründete dann die Jungle World mit.

Ivo Bozic: Federica, du bist 2003 zur Jungle World gekommen. Deine Bewerbung hast du uns aus Italien geschickt, wo du gelebt hast. Wie bist du auf die Idee gekommen?

Federica Matteoni: Dass es die Zeitung gab, wusste ich bereits, als ich 1998 zum ersten Mal nach Berlin kam. Die erste Ausgabe, die ich wirklich von vorne bis hinten gelesen habe, war die Auslandsnummer über Italien im Sommer 2000. Die hat mich sehr interessiert. Nicht aus Patriotismus, weil es um Italien ging, sondern weil es in dieser Ausgabe gelungen war, das zu beschreiben, zu diskutieren und auch zum Teil zu kritisieren, was in unserem Leben wichtig war. Mit »uns« meine ich politisch interessierte und aktive Menschen in den Centri Sociali usw. Es wurde darüber geschrieben, welche Debatten wir führen, welche Musik wir hören, und das alles in dieser unglaublich attraktiven poppigen Art … Großartig!

Später begann ich, die Zeitung regelmäßig zu lesen. Ich arbeitete in einem linken Postoperaisten-Verlag. Meine damaligen Kollegen, die sich wie alle Postoperaisten unheimlich ernst nehmen und Pop prinzipiell ablehnen, fanden die Jungle einerseits merkwürdig, weil ungewohnt, aber gleichzeitig sehr charmant, sehr spannend für ihre Themensetzung. Und das alles, ohne dass sie ein Wort verstanden hätten. Der Leiter des Verlags, der sich seit den achtziger Jahren mit Gegenöffentlichkeit beschäftigt, erzählte immer, wie er davon träumte, eine linke Wochen- oder Monatszeitschrift herauszugeben. In Italien fehle aber die Kultur für so etwas. Erst als ich die Jungle aus der Nähe kennen gelernt habe, verstand ich, was er damit meinte.

Die harten theoretischen Fragen wurden in Italien bereits in Zeitschriften diskutiert, die sehr elitär und für nicht hochgradig politisierte Leser ziemlich unzugänglich waren – eine davon haben wir selbst herausgegeben –, dann gab es Versuche, so genannte Bewegungszeitschriften zu machen, sie wurden aber von dem einen oder dem anderen Flügel der Bewegung als Sprachrohr verstanden und dementsprechend benutzt, also zum Abdrucken von Aufrufen, etwas besser formulierten Flugblättern und Positionspapieren. Von kritischer Intervention in brisante Debatten keine Spur. Der linke Diskurs in Italien war immer zu monolithisch, von Selbstverständlichkeiten und identitären Dogmen geprägt, sehr am Denken einiger weniger Theoretiker-Gurus orientiert – Negri! –, so etwas konnte nicht durchbrochen werden.

Italien ist dabei nur ein Beispiel, aus unserer Erfahrung mit Korrespondenten in Europa und auf unseren Reisen haben wir ja festgestellt, dass die Jungle ein einzigartiges publizistisches Produkt ist, dass es so etwas in anderen europäischen Ländern nicht gibt. In wenigen Ländern wie in Deutschland diskutiert und spaltet sich die Linke an den Themen Nationalismus, Antisemitismus, Antiamerikanismus, und das halte ich für einen Verdienst der Jungle im linken Diskurs.

Ivo Bozic: Du wusstest also, worauf du dich eingelassen hast, als du zu uns gekommen bist?

Federica Matteoni: Ich bin 2003 gekommen, mitten in die Debatte um den Irak-Krieg. Mir war völlig bewusst, dass die Jungle da eine ziemlich einzigartige Position im linken Spektrum vertreten hat. Ich wusste, dass die Jungle ein unbequemes Produkt ist für die Linke und dass sie kein Sprachrohr für irgendwelche Gruppen oder Strömungen ist. Was genau »antideutsch« ist, wie andere die Jungle World – fälschlicherweise – oft bezeichneten, habe ich erst später genauer verstanden. So etwas gibt es in Italien nicht.

Ivo Bozic: Würdet ihr sagen, dass die Jungle World früher näher dran war an den linken Bewegungen als heute, und wenn ja, liegt das eher daran, das sich die Jungle verändert hat, oder hat sich nicht vielmehr die Linke ausdifferenziert und marginalisiert?

Bernd Beier: In der Gründungszeit der Jungle World gab es auch keine großen sozialen Bewegungen. Ich erinnere mich nicht, dass 1997/98 da irgendwas von Belang gewesen wäre. 1999 war der Jugoslawien-Krieg, eine Bewegung dagegen war de facto nicht existent, von ein paar tausend, überwiegend Ossis, abgesehen, die auf dem Alexanderplatz der PDS nachgerannt sind. Obwohl es ein entscheidender Bruch war, dass Deutschland zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Krieg führte, gab es damals natürlich keine Friedensbewegung, was aber auch nur die verwundert, denen entgangen war, dass eine deutsche Friedensbewegung immer zu mindestens 50 Prozent aus Nationalismus besteht. Insofern konnten wir unsere Positionen in der Zeitung vergleichsweise gemütlich entfalten, ohne dass uns sofort der Vorwurf der Entsolidarisierung gemacht wurde.

Selbstverständlich musste man in der Folgezeit, insbesondere nach 9/11 – wo wir gesagt haben, dass das Projekt der islamistischen Umma ja wohl kaum der Ansatz für Emanzipation sein kann –, und verstärkt beim Irak-Krieg, einen Bruch mit der deutschen Friedensbewegung organisieren. In dem Moment, wo die Friedensbewegung offensichtlich dem deutschen Staat und dessen Außenpolitik hinterherrennt, wenn fast die gesamte Linke, besoffen vom deutschen Friedensfusel, auf Schröders »deutschem Weg« herumschwankt, während in den Zeitungen die »Geburt der europäischen Nation« gefeiert wird – die fatal an die »Nation Europa« der Rechten und Nazis erinnert –, wenn Deutschland sich als »Weltfriedensmacht« halluziniert und alle »Frieden« hören statt »Weltmacht« zu verstehen, wenn das passiert, muss man sich doch fragen, wie eine kritische Position aussieht. An dem Punkt haben wir gesagt: nicht mit der deutschen Außenpolitik, die mit Frankreich ein antihegemoniales Projekt gegen die USA im Nahen Osten verfolgen will, nicht mit Saddam Hussein und den Mullahs! Das hat uns in der Linken Sympathien gekostet, aber ich finde es immer noch richtig, diesen Bruch organisiert zu haben.

Ein anderer Punkt, an dem wir polarisiert haben, war die zweite Intifada, die religiös aufgeladen war und plötzlich al-Aqsa-Intifada hieß, wo auf einmal fast alle palästinensischen Gruppen, von den Islamisten bis zur PFLP, Selbstmord­attentate organisierten und von »Märtyrern« faselten. Natürlich wurde die Soli-Bewegung giftig, als wir auch da polarisiert haben, und natürlich hat uns das den Vorwurf eingebracht, eine antideutsche Verschwörung zu betreiben. Aber es war dennoch richtig, dort zuzuspitzen, und heute ist es offensichtlich, was daraus geworden ist: Hamastan in Gaza. Regina Stötzel: Auch wenn es vor zehn Jahren keine großartigen Bewegungen gab, hat die Jungle trotzdem in der Linken eine andere Rolle gespielt als heute. Die Debatten, die in der Linken geführt wurden, wurden zu einem großen Teil in der Jungle geführt. Das hat weniger damit zu tun, dass wir damals pluralistisch gewesen wären und es heute nicht mehr seien. Die Linke hat sich gespalten und hätte es auch ohne unser Zutun getan. Es wäre anmaßend zu behaupten, das sei unser »Verdienst«. Diejenigen, die mit unseren Ansichten nicht klar kamen, die haben uns auch schnell nicht mehr gelesen. Wir haben zwar polarisiert, aber vor allem sind in der Linken Milieus auseinandergebrochen.

Davon abgesehen hat mich nie die Kritik gestört, die wir geäußert haben, aber doch oft der Habitus, der Ton, mit dem dies geschah. Man sollte immer bedenken, dass es Leute gibt, die noch nicht 25 Jahre Politik machen, die man erreichen könnte, aber mit herablassenden Gesten oft eher verschreckt hat. Das finde ich falsch. Wir haben viele vor den Kopf gestoßen, nicht mit den Inhalten der Kritik, sondern mit ihrer Form.

Ivo Bozic: Wir stoßen ja gern andere vor den Kopf. Nach Möglichkeit allen. Man muss diese Kopfstöße mögen, um uns zu lieben, und es hat sich gezeigt, dass es doch einige Leute gibt, die es zu schätzen wissen, wenn wir regelmäßig ihre eigene Selbstversicherung durcheinander bringen. So haben wir es auch geschafft, nicht zu einem Organ irgendeiner Strömung zu werden. Dennoch beobachte ich doch öfter im Redaktionsalltag, dass wir uns darüber Gedanken machen, was das Publikum jetzt haben will, was wir ihm jetzt bieten müssen. Von der G8-Disko, die ein halbes Jahr lief, waren wir, so wie sie sich konkret gestaltete, größtenteils nicht besonders überzeugt, aber wir wussten, dass nur wir gerade eine solch breite Debatte öffentlich organisieren konnten und dass das viele unserer Leser haben wollten, also haben wir das gemacht. Wie frei ist unser Verhältnis zum Leser? Wie radikal sind wir folglich wirklich in der Kritik?

Bernd Beier: Oft ist die Jungle nicht besser als die Mainstreamlinke. Viele Artikel in der Jungle fußen auf sozialdemokratischen Begrifflichkeiten. Schon das ganze begriffslose Geschwätz vom »Neo­liberalismus«, unter den mal der US-amerikanische Rüstungskeynesianismus, mal das korporatistische Modell Deutschland unter Kohl, mal die Wirtschaftspolitik der Mullahs gefasst wird, verweist darauf, dass viele insgeheim nicht mehr wollen als einen regulierenden Staat; das zieht sich auch durch die Jungle World. Nur dass es hier auch noch Artikel gibt, die versuchen, das explizit zu kritisieren. Kurz: Mir ist die Kritik oft zu wenig radikal.

Klaus Behnken: Wir übernehmen uns. Vor zehn Jahren wollten wir möglichst alles abdecken. Da hatte das Internet noch nicht die Bedeutung als Informationsquelle, die es heute hat. Wir haben also versucht, die Jungle World so zu organisieren, dass sie die Ereignisse der vergangenen Woche aufarbeitete. Das war damals völlig berechtigt. Heute wird aber noch genauso vorgegangen. Wir versuchen immer noch, so etwas zu sein wie eine nachholende Tageszeitung. Ich bin der Meinung, von diesem Konzept sollten wir Abschied nehmen und wirklich nur Themen machen, zu denen wir etwas Eigenständiges zu sagen haben, und Themen, die auch gegen den Aktualitätsdruck und den medialen Mainstream stehen.

Ivo Bozic: Mit dem Islamismus z.B. haben wir uns sehr frühzeitig und auf hohem Niveau beschäftigt, zu einem Zeitpunkt, als das noch nicht viele getan haben. Inzwischen ist die Debatte überall, und vieles, was wir dazu zu sagen haben, kann man auch woanders lesen. Ist das so ein Problem?

Federica Matteoni: Ich finde nicht, dass es der Jungle nicht gelungen ist, eine eigenständige Kritik zu formulieren. Gerade bei Themen, die für die Linke von großer Bedeutung waren, etwa voriges Jahr in Frankreich der Streik um den CPE und der Aufstand in den Banlieues. Ich fand unsere Berichterstattung und unsere Analysen ziemlich gut, weil wir versucht haben, diese linken Reflexe vom »Aufstand der Armen« infrage zu stellen, und ganz genau hinzuschauen, was dort wirklich passierte.

Bernd Beier: Solche Themen werden in einer mystifizierten Form von den Medien aufgenommen. Diese Mystifikation muss man durchbrechen. Das ist der Unterschied zwischen einer kritischen Berichterstattung, wie sie die Jungle versucht, und dem, was Mainstreammedien, oft auch linke Medien, machen. Am Beispiel der linken Diskussion um Islamismus: Da hat man auf der einen Seite einen kulturrelativistischen Antirassismus, der das Kopftuch verteidigt, und auf der anderen Seite Kritiker, die den Islamismus und den Islam in Grund und Boden kritisieren, in der Konsequenz aber beim republikanischen Staat landen. Man sollte einen Schritt weiter gehen und Religionskritik mit Staatskritik verbinden.

Ein anderes Beispiel: Es war auch in der Jungle-Redaktion umstritten, wie man mit dem Karikaturenstreit umgehen sollte. Aber zumindest die eine Sache, dass man sich als Zeitung die Kritik nicht von den viel zitierten religiösen Gefühlen untersagen lässt, das galt es zu verteidigen. Ich sehe das so: Wir leben in einer Zeit der Restauration. Es ist schwierig, kritische, radikale Autoren zu finden, und das spiegelt sich natürlich auch in der Berichterstattung der Jungle World wider.

Ivo Bozic: Die Jungle war von Anfang an ein sehr heterogenes Projekt, eine gemeinsame Linie gab es nie wirklich. Bei uns bekommen die Leser nicht die Antworten, die sie vielleicht suchen, wir stellen höchstens die richtigen Fragen. Das Radikalste an der Jungle World ist ihre Kritik, sagen manche unserer Kritiker. Nicht ganz zu Unrecht, denke ich. Wenn es darum geht, einen Standpunkt zu beziehen, sind wir nicht immer radikal, schon deshalb, weil wir scheinbare Gewissheiten immer auch wieder infragestellen. Man wirft uns deshalb zuweilen Beliebigkeit vor. Regelmäßig gibt es aber Konflikte und Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Redaktion zu politischen Themen mit je nach Thema ständig wechselnden Fronten. Inwiefern bräuchten wir eine bessere politische Selbstvergewisserung? Oder würde dies unseren offenen Ansatz nicht auch beschädigen?

Klaus Behnken: In der Jungle World haben sich 1997 Leute zusammengefunden, die noch in der jungen Welt sehr gegensätzliche Ansichten vertraten, zum Beispiel wir beide, Ivo und ich. Das ist immer ein Vorteil gewesen. Die Jungle World braucht keine gemeinsame Weltanschauung, trotzdem wäre es gut, wenn es so etwas wie einen Rahmen gäbe, der durch Diskussionen immer wieder neu hergestellt wird. Ein paar Sachen sind klar: Hier wird es z. B. keine Diskussion darum geben, ob der Staat Israel eine Existenzberechtigung hat oder nicht. Aber vieles ist unscharf geworden in der Zeitung, Pluralität kann doch nicht bedeuten, sich jedem Scheiß zu öffnen. Die Jungle World ist verwechselbar geworden, und das liegt auch an einer fehlenden Selbstverständigung in Form von Diskussionen innerhalb der Redaktion.

Ivo Bozic: Da gibt es ja auch das ganz praktische Problem, dass wir mit unseren Kapazitäten zu hundert Prozent damit ausgelastet sind, jede Woche die Zeitung zu machen. Nebenher organisieren wir noch Veranstaltungen, Werbekampagnen, hängen Plakate auf und putzen die Küche, streiten uns über Raucherzimmer und sind alle zusammen für den gesamten Betrieb verantwortlich. Der Raum für politische Diskussionen ist zeitlich extrem eng. Meint ihr, dass die prekären Verhältnisse, unter denen wir die Zeitung machen, dazu führen, dass die Qualifizierung und der Erfolg der Zeitung an ihre Grenzen stoßen?

Regina Stötzel: Die Prekarität trägt sicher dazu bei. Es gibt z.B. viele Autorinnen und Autoren, die man klasse findet, die aber plötzlich einen Job haben, von dem sie leben können, was man als freier Autor oft nicht kann – von der Jungle allein schon gar nicht –, und dann sind sie weg. Das hat sich eher verschärft mit den Jahren. Dazu kommt, dass alle, die hier arbeiten, sich mit den Jahren selber wirtschaftlich an ihre Grenzen bringen und man sich regelmäßig fragen muss, wie lange kann ich es mir leisten, hier zu arbeiten?

Federica Matteoni: Das stimmt. Der Frust über unsere prekären Verhältnisse wächst in der Redaktion, wir werden auch älter, das Leben wird teurer. Trotzdem sind wir in unserer Prekarität in einer ziemlich privilegierten Stellung, weil wir uns die Art, wie wir arbeiten, und das Material, mit dem wir arbeiten, selber aussuchen können. Das ist auch eine große Freiheit, die wir hier haben.

Klaus Behnken: Aber der Hinweis auf die prekäre Lage kann nicht das letzte Wort sein. Trotz dieser Situation muss man es schaffen, die Debatte, die Auseinandersetzung zu organisieren. Das ist die erste Voraussetzung, um diese Zeitung zu machen.

Bernd Beier: Wir gehören in der Jungle zu einem Segment von Kopfarbeitern, denen es allen nicht anders geht. So wie das hier verhandelt wird, finde ich das larmoyant. Man muss doch reflektieren, dass es durch die so genannte dritte technologische Revolution eine gesamtgesellschaftliche Bewegung gibt, die die Kopfarbeit entqualifiziert, inklusive der eigenen, mit der Folge, dass die Entlohnung sinkt. Und da jammert man herum, obwohl der Stress in der Jungle immer noch nicht so groß ist wie in vergleichbaren Jobs.

Ivo Bozic: Wir haben eben schon über unsere Rolle als politische Zeitung gesprochen. Meine Frage schließt sich daran an: Für wen machen wir die Zeitung eigentlich? Wenn ich Woche für Woche an meiner Tastatur sitze, denke ich nicht nur an den Antifa-Aktivisten in Schwedt, sondern ich weiß, dass auch ein Lehrer im Bayerischen Wald und ein Pfarrer in Thüringen und eine Künstlerin in Köln und auch viele Multiplikatoren in anderen Redaktionen die Zeitung lesen. Und für die alle soll die Jungle World auch interessant sein. Ich finde es einerseits wichtig, die Linke mit der Kritik an der Linken zu konfrontieren, andererseits aber auch Leute außerhalb linker Kreise mit den Debatten der Linken. Unsere Zielgruppe ist dubios, wohl mehr als bei anderen Zeitungen. Seht ihr das als Problem?

Regina Stötzel: Das sehe ich nicht so sehr als Problem. Unsereins interessiert sich ja für viele Dinge und will nicht den ganzen Tag über Politik quatschen und über die Probleme der Linken lesen, sondern auch mal was ganz anderes. Eine Filmkritik oder was auch immer. Ich denke, wenn die Zeitung so ist, dass sie einem selber gefällt – vorausgesetzt, man kann ein wenig von sich abstrahieren und die Interessen anderer mitdenken –, dann ist sie auch gut. Was Ivo als Spannungsfeld aufgemacht hat, die Linke, die mit Kritik konfrontiert wird, und die Nicht-Linke, die mit der Linken konfrontiert wird, das ist es doch genau. Wenn wir das alles schaffen, dann ist es super. Es gelingt bloß nicht immer.

Bernd Beier: Ich habe die Jungle immer auch als Instrument empfunden, Kritik zu organisieren. Selbstverständlich richtet sich die Zeitung an das politisch interessierte oder kritisch inspirierte Segment in dieser Gesellschaft.

Ivo Bozic: Ich denke gerade an die Debatte um Poplinke und Rocklinke. Zur Zielgruppe gehörte jedenfalls immer auch ein postpolitischer, kulturell bestimmter Adressat. Leute, die konkret weniger Interesse an dem politischen Gehalt einer Debatte haben als an ihrer Erscheinung. Das führt zu Widersprüchen, die ebenfalls in diese Zeitung gehören. Jedenfalls will ich, und ich denke, das sehen wir alle so, nicht einfach nur linke Diskussionen wiedergeben.

Federica Matteoni: Unsere Aufgabe ist es nicht, die linken Debatten nur wiederzugeben, sondern in die linken Debatten zu intervenieren, Kritik zu organisieren, wie Bernd meinte. Ich denke, dass wir keine Zeitung für die Linke machen sollten – aber auch keine gegen die Linke. So wie es immer wieder passiert ist, dass diese Kritik häufig in einer schlichten Ablehnungshaltung geendet hat und eben nicht mehr die Funktion hatte, Debatten zu führen oder zu neuen Positionen zu kommen. Das Verhältnis zur globalisierungskritischen Linken ist ein Beispiel dafür. Es gab einen Beitrag zu dem europäischen Sozialforum in Florenz, der in einem überheblichen Ton darüber berichtete. Man hat gemerkt, die Intention des Artikels war zu zeigen: Guckt, wie dumm sie sind. Man hat sich nur die dümmsten Beispiele von dem, was dort abging, ausgesucht und wiedergegeben. Die Frage, bezogen auf Großereignisse wie die Sozialforen oder G8-Gipfel, wo Zehntausende von Menschen sind, müsste sein: Haben die wirklich alle nichts im Kopf? Gibt es nicht in dieser Menge auch Subjekte, die für unsere Kritik erreichbar sind? Die Linke ist eine der wichtigsten Zielgruppen der Zeitung, oder auf jeden Fall interessiert sie mich am meisten.

Bernd Beier: Ich glaube zwar nicht, dass ich besonders repräsentativ bin, aber mit 20 Jahren wäre ich bestimmt einige Tage lang zu so einem Spektakel wie dem in Heiligendamm hingefahren, und hätte mich dann auf jeden Fall über jeden kritischen Artikel, der dieses ganze Spektakel in seiner Totalität kritisiert, diebisch gefreut. Dass es das überhaupt nicht mehr gibt, das ist doch das Skandalöse. Oder wenn den meisten Linken in den Diskussionen auf den Europäischen Sozialforen gar nicht auffällt, dass da Islamisten ’rumhüpfen wie etwa Tariq Ramadan, der von einem ESF zum nächsten durchgereicht wurde, was soll ich denn davon halten?

Und für mich ist diese Kritik der Globalisierung, die sich Mitte der neunziger Jahre an die Stelle von einer sowieso schon verwässerten Kritik der kapitalistischen Totalität gesetzt hat, einfach nach rechts meilenweit offen. Mir wird ganz schummrig, wenn ich mir die ganzen nationalistischen Tendenzen in der Bewegung anschaue, und dazu zähle ich natürlich auch die Begeisterung für einen linksnationalistischen Caudillo wie Chávez. Der rechte Flügel sagt grundsätzlich, mit dem eigenen Staat gegen die Globalisierung. Und dann bist du schnell bei rassistischen und antisemitischen Mustern. Und das zieht sich bis weit in die Linke hinein.

Ivo Bozic: Um nochmal auf die Zielgruppe zurückzukommen, da sind wir uns schon einig, dass wir irgendwie Linke erreichen wollen mit der Zeitung, was immer man auch im einzelnen darunter versteht. Aber wie viele erreichen wir eigentlich? Wenn man sich das anschaut, haben wir unsere Leserschaft in zehn Jahren nicht vergrößert. Wir haben sie gehalten alles in allem, und das ist schon ein ziemliches Wunder, angesichts dessen, was um uns herum politisch passiert ist, und auch angesichts der allgemeinen Krise der Printmedien. Gibt es überhaupt die Perspektive, dass sich unsere Leserschaft jemals relevant vergrößert? Gibt es mehr Leute, die für so etwas Schräges, wie wir es machen, erreichbar sind? Ließe sich etwa die Zielgruppe erweitern, wenn man mehr in den Vordergrund stellen würde, dass wir nicht nur eine Zeitung für und über die Linke machen, sondern eben auch ein journalistisches Produkt mit journalistischem Anspruch sind? Kritischer Journalismus muss schließlich auch, soweit das möglich ist, ideologiefrei sein.

Regina Stötzel: Wir bewegen uns ja mit unseren Themen nicht nur innerhalb der Linken. Es geht nicht die ganz Zeit um Bewegungen, den nächsten Gipfel und Sozialforen und linke Zentren hier und da. Der entscheidende Punkt ist, dass man an Themen wie den Streik bei der Telekom oder Konflikte in afrikanischen Ländern, über die sonst kaum berichtet wird, ebenso kritisch heranzugehen versucht, damit die Texte interessant sind für viele Leute.

Klaus Behnken: Bedeutet deine Frage, Ivo, dass wir uns manchmal in unserer Radikalität etwas zurücknehmen sollten, um mehr Leser zu bekommen?

Ivo Bozic: Nein, es geht mir um das eigene Verständnis und den nicht auszuräumenden Widerspruch zwischen linken Ansprüchen und journalistischer Objektivität. Journalismus bedeutet für mich, dass eine Recherche, wenn sie beginnt, im Ergebnis offen sein muss. Und wenn etwas anderes als erwartet herauskommt, etwas, das nicht in irgendeine linke Schablone passt, oder auch, wenn nicht die ganz furchtbar radikale Kritik herauskommt, die wir uns erhofft haben, dann ist es trotzdem unser Job, es so aufzuschreiben. Nicht dass ich denke, die Jungle sollte eine »normale Zeitung« sein, aber ich sehe es auch nicht als Aufgabe der Jungle World, ständig Meinungen zu produzieren, Futter für den linken Selbstfindungsprozess. Es kommt auf die Sicht der Dinge an, aber auch auf die Dinge selbst.

Bernd Beier: Neue Zielgruppen können bestimmt nicht Journalisten sein, dann schmort man ja nur im eigenen Saft. Aber man agiert natürlich in dem Segment der mehr oder minder prekarisierten Intelligenz, und da kann man eine ganz eigene Sprengkraft erreichen. Man kann die eigene Rolle und Funktion reflektieren, die man als Journalist hat mit all den Begrenzungen, die das heutzutage, im Zeitalter der Digitalisierung, mit sich bringt. Schließlich ist man als Journalist, nur als ein Beispiel, abhängig von den Agenturberichten und von dem, was andere Medien zusammenschaufeln, weil unsere Recherchemöglichkeiten einfach auch begrenzt sind.

Regina Stötzel: Jetzt jammert er selber.

Bernd Beier: Das hat nichts mit Jammern zu tun, wenn man die Grenzen, denen man in der eigenen Arbeit unterworfen ist, mitreflektiert, und die Grenzen, die bereits im Journalismus mit drinstecken. Die Kritik der eigenen Rolle und Funktion ist genau das Universalisierbare, das auch auf die anderen Rollen und Funktionen, die die Kopflanger ausfüllen, ausgeweitet werden kann. Entscheidend sind zwei Fragen: Was heißt kritischer Journalismus? Und was heißt, darüber hin­aus, Kritik des Journalismus, das heißt der Form und Funktion, die er in dieser Gesellschaft hat?

Klaus Behnken: Das heißt, wie es Ivo schon beschrieben hat und was ja auch zum Gründerbekenntnis gehört, dass wir ergebnisoffen arbeiten, dass wir versuchen, Sachen so zu beschreiben, wie sie wirklich laufen. Und wenn sie schlecht für uns laufen, dann werden sie eben entsprechend beschrieben. Das gilt zum Beispiel auch für die Antifa-Seite, die mitunter ein einfaches Weltbild liefert: Wir sind die Guten und die sind die Schlechten. Und das zu Lasten der Fakten. Manche Leserinnen und Leser möchten sich wiederfinden, bestätigt und nicht gestört werden. Sie haben Sehnsucht nach einer Heimat, die wir ihnen nicht bieten können und wollen. Wenn es notwendig ist, müssen wir auch die eigenen Leute scharf kritisieren, aber immer von links!

Ivo Bozic: In Sachen Antifa-Seite würde ich dir, Klaus, widersprechen. Ich denke, auch wenn das Thema Nazis viele inzwischen langweilt, es ist unsere journalistischste, investigativste Seite. Ein gutes Beispiel für das, was ich mit meinem »Journalismus«-Plädoyer meinte.

Regina Stötzel: Bernd hat eben gesagt, dass Journalisten nicht unbedingt unsere primäre Zielgruppe sein müssten. Ich würde mir aber manchmal wünschen, dass man in anderen Zeitungen Artikel finden würde wie die besseren in der Jungle. Texte, die kritisch sind, die radikal sind, die sich aber auch um eine eigene Form bemühen und um eine eigene Sprache. Ich würde mir wünschen, dass das für andere Journalisten interessant wäre.

Bernd Beier: Das ist die Jungle doch seit zehn Jahren. Viele klauen bei uns doch wie die Raben.

Ivo Bozic: Wir wissen, dass wir von Journalisten gerne gelesen werden, weil man in der Jungle oft auch Themen findet, die noch nicht durch den Ticker gegangen sind, und Perspektiven, die ungewöhnlich sind, und das ist für die natürlich interessant. Gleichzeitig werden wir kaum zitiert. Man bedient sich bei uns, aber zitieren tut man uns selten, weil das als anrüchig gilt, oder weil der Name nicht seriös genug klingt, oder warum auch immer. Haben wir da eigentlich eine Chance, oder müssten wir uns dafür zu sehr verändern?

Klaus Behnken: Dafür müssten wir uns verändern. Aber es kann ja nicht unser Ziel sein, zitiert zu werden. Solange wir radikal bleiben oder uns re-radikalisieren, werden wir nicht oder nur negativ zitiert werden. Und das ist auch okay so. Wir sind nun einmal eine linke Zeitung, und wenn wir das ernst meinen, was wir schreiben, dann besteht auch kein Anlass, uns zu zitieren.

Ivo Bozic: Das sehe ich nicht so. Schließlich geht es mir – ich sag mal: als Publizist – um Aufmerksamkeit. Unter anderem auch deshalb übrigens freue ich mich auf den Relaunch in der nächsten Ausgabe, der zumindest äußerlich einen ziemlichen Bruch bedeutet. Was erwartet oder erhofft ihr euch von dem neuen Layout?

Regina Stötzel: Bei den Fotos soll die Devise sein, weniger und dafür besser. Bei den Texten wird es ein paar mehr Möglichkeiten geben, von den Formaten her. Ansonsten muss man die Formate einfach besser füllen.

Federica Matteoni: Ich freue mich auf jeden Fall auf diese neue ­Jungle, deswegen sind wir ja auch in den letzten Wochen ein bisschen in Aufbruchstimmung gewesen. Ich finde, das kann uns nur gut tun, gegen die routinierte Arbeit und die Eingefahrenheit. Auf jeden Fall ist vieles offen, und ich denke, dass das neue Layout auch inhaltliche Folgen haben wird, insofern, als dass wir uns mehr Gedanken machen werden, was wir inhaltlich verstärken wollen und können. Und dass wir darüber auch mehr diskutieren.

Klaus Behnken: Dass in die neuen Schläuche auch neuer Wein kommt, am besten Branntwein.