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Berlin Beatet Bestes. Folge 64. Sista Sekunden: Åldras med Stil (2010).

Der Blog des Schweizers Erich Keller, »Good bad music for bad, bad times«, ist ziemlich außergewöhnlich. Er ist der zurzeit beste und mit 1 200 Besuchern täglich auch erfolgreichste Punkblog. Dabei sind nicht nur die von Keller in teilweise nie zuvor gehörter Qualität digitalisierten Platten zu hören und zu downloaden, auch die kluge, sachkundige und analytische Art, mit der dort über Musik geschrieben wird, ist in der Welt der Punkblogs ziemlich einzigartig. Vor einiger Zeit hat Keller sich zur heutigen Hardcore- und Punkszene geäußert. Seiner Meinung nach ist diese nur noch eine »Hardcore Re-enactment«-Szene, ähnlich den Veranstaltungen in den USA, auf denen – hauptsächlich in den Südstaaten – Normalbürger in Verkleidung den amerikanischen Bürgerkrieg nachspielen. Hardcore-Punk sei nur in der kurzen Zeit zwischen 1980 und 1986 von Bedeutung und auch nur in dieser Zeit zu verstehen gewesen. Losgelöst von den sozialen Bedingungen der Achtziger sei diese Musik nur noch nostalgisch. Der Text von Keller löste eine Unmenge von Kommentaren aus, deren Urheber sich – grob gesagt – in zwei Lager teilen. In die Älteren, die die Achtziger miterlebt, den Kontakt zur aktuellen Hardcoreszene aber verloren haben. Diese stimmten zu. Und in die Jüngeren, die ihre Szene verteidigten und widersprachen.
So sehr ich mich auch dagegen wehre, so muss ich doch zähneknirschend zugeben, dass Keller Recht hat (ich gehöre ja auch zu den Älteren). Ein großer Teil der neuen Hardcore-Punk-Veröffentlichungen ist in einem Retrostil gehalten. Nostalgie hat schließlich noch jede Popgeneration in den vergangenen 60 Jahren umgetrieben: Die Jazzfans der Fünfziger waren verrückt nach dem Dixieland-Sound der Zwanziger, die Hippies der Sechziger liebten den Jugendstil der Jahrhundertwende, und in den Siebzigern gab es das erste Rock’n’Roll-Revival. Auch ich liebte Anfang der Achtziger die fünfziger Jahre. Zum Glück haben damals die älteren Rocker, die Gene Vincent noch im Star-Club gesehen hatten, nicht auf mich herabgesehen. Die Stray Cats haben sie vielleicht selbst nicht ganz verstanden, aber sie haben sich doch gefreut, dass ihre Musik für junge Leute noch von Bedeutung war.
So ähnlich betrachte ich heutzutage die schwedische Hardcore-Punk-Band Sista Sekunden. Auf ihrem mittlerweile dritten Album wechseln sich schnelle harte Stücke mit melodischen Popstücken ab. Pop ist in der Hardcoreszene durchaus verpönt. Als ich die Gruppe neulich live in Berlin sah, wollten oder konnten die Punks zu den neueren poppigen Stücken nicht tanzen. Dabei sind Sista Sekunden eine der wirklich herausragenden europäischen Hardcorebands. Allen Punks und Nichtpunks kann ich ihr neues Album empfehlen, es ist mitreißend und eingängig. Mein Lieblingslied auf ihm ist ein echter Popsong: »Sista punkaren i Sverige«. Was so viel heißt wie: »Der letzte Punk in Schweden«.