Über den Begriff der Gerechtigkeit

Immer schön Schlange stehen

Der Begriff der Gerechtigkeit wird mittlerweile inflationär benutzt. Die Spannbreite reicht von der Leistungsgerechtigkeit bis zur sozialen Gerechtigkeit. Was bei dem Ruf nach Gerechtigkeit jedoch kaum eine Rolle spielt, ist die Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen.

Gerechtigkeit ist eine zwiespältige Sache. Wer sich auf sie beruft, weil er in einem Konflikt unterlegen und ihm Schaden widerfahren ist, appelliert an sie als eine Instanz, die außerhalb dieses Konflikts liegt. Gerechtigkeit ist größer und umfassender als jeder Konflikt, und sie greift von außen in ihn ein. Sie ist überparteilich, das ist ihr Gütesiegel. Gleichzeitig herrscht eine regelrechte Gerechtigkeitsinflation: Es gibt die Leistungs­gerechtigkeit, die Steuergerechtigkeit, die Lohngerechtigkeit, die Verteilungsgerechtigkeit, die soziale Gerechtigkeit, die Partizipationsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit in der Bildung oder der Geschlechterfrage, natürlich auch die Generationengerechtigkeit. Es gibt zudem unzählige private, individuelle, situative Gerechtigkeiten: Die Fehlentscheidung eines Schiedsrichters ist natürlich ungerecht; wenn sich jemand an der Kinokasse an der Schlange vorbeimogelt und vielleicht die besten Karten ergattert, ist das erst recht ungerecht.
Einerseits ist Gerechtigkeit das Ideal, an dem sich die Gesellschaft aufrichten soll, etwas, das über den Konflikten schwebt, das höchste, heilige Ordnungsprinzip. Andererseits aber muss sie dafür herhalten, noch das kleinste Detail zu regeln, den geringsten Streit zu schlichten. Die überparteiliche Gerechtigkeit lässt sich für das Interesse jeder Konfliktpartei in Beschlag nehmen. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich bei näherem Hinsehen aber schnell auf. Gerechtigkeit ist das allgemeine Formprinzip der Moral der bürgerlichen Gesellschaft. Wer nach ihr ruft, fragt nicht nach der Struktur des Konflikts und der Ursache des erlittenen Schadens, sondern orientiert sich an einer Regel, die für alle verbindlich gilt und die dementsprechend alle gutheißen (zumindest tun sie so). Das alltägliche Beispiel der Kinokasse ist da ganz aufschlussreich. Der Grund, weshalb man sich aufregt, wenn sich jemand einfach so vorbei­mogelt, hat vielleicht damit zu tun, dass man nur selten ins Kino gehen kann. Das Geld ist knapp, an den meisten Feierabenden ist man zu erschöpft, um sich noch einmal aufzuraffen, der Verabredung geht es genauso, und es ist ein großes Glück, dass man sich doch noch zum Lieblingsfilm zusammengefunden hat. Logisch, dass an diesem besonderen Abend alles stimmen muss, auch der Sitzplatz. Wenn sich dann ein anderer Kinobesucher nicht an die Spielregeln hält, ist der Frust da und das Verlangen nach Gerechtigkeit groß. Der Grund für den Frust liegt ganz woanders: Wären die Verhältnisse so, dass man mehr Zeit hätte, abends einfach entspannter wäre und die Kinobesuche vielleicht sogar kostenlos wären, man würde sich über den egoistischen Trickster (wenn es ihn denn in solchen Verhältnissen überhaupt noch gäbe) gar nicht groß aufregen.

Gehe ich aber nicht dem Grund meines Frustes nach, sondern rufe nach Gerechtigkeit, fallen solche erhellenden gesellschaftlichen Erwägungen mit einem Schlag weg. Der Ruf nach Gerechtigkeit ist das Verlangen nach einer Regel, die für alle gelten soll. Wer »alle« sind, was sie für Geschichten, Voraussetzungen und Motivationen mitbringen, interessiert nicht. Gerechtigkeit wirkt eminent antigesellschaftlich – ist aber gleichzeitig ein Produkt der Gesellschaft. Sie ist die Vorgabe, nach der sich die Menschen in einer Welt einrichten, die im höchsten Maße unbehaglich ist.
Wie die kleine Gerechtigkeit, die dafür sorgt, dass sich alle brav in die Schlange vor der Kasse einordnen, nichts an dem Frust der Leute ändert – ihn vielmehr voraussetzt –, der sie eifersüchtig darüber wachen lässt, dass keiner aus der Reihe tanzt, so ändert die große Gerechtigkeit, beispielsweise die soziale, nichts an der systematischen Produktion von Armut. Soziale Gerechtigkeit – das ist die Pendlerpauschale, das sind die Bildungsgutscheine, vielleicht sogar die Einführung von Mindestlöhnen oder auch der erleichterte Einstieg in den Arbeitsmarkt. Die Pendlerpauschale legitimiert, dass Leuten zugemutet wird, täglich absurde Distanzen zwischen Wohnort und Arbeitsplatz zurückzulegen. Bildungsgutscheine sagen nichts über den Inhalt (und den Nutzen) der jeweiligen Angebote aus. Mindestlöhne sind keine Jobgarantie (im Gegenteil, sie gelten den Apologeten des Kapitals als Hindernis, mehr Menschen einzustellen) und definieren gemäß unklaren Maßstäben bloß die Lohnuntergrenze. Der erleichterte Einstieg in den Arbeitsmarkt erfolgt über Minijobs und Leiharbeit, wer diese Angebote ausschlägt, wird von der Arbeitsagentur mit Sanktionen bestraft. Es ist gleichgültig, welches Beispiel sozialer Gerechtigkeit man betrachtet, keines verweist auf den Grund der sozialen Misere, aber jedes steht in einem funktionalen – herrschaftsdienlichen – Verhältnis zu ihr.

Mit den anderen Formen der Gerechtigkeit steht es nicht viel besser: Die Chancengerechtigkeit ist keine Kritik an der Arbeit, auch kein Auftakt dazu, sondern soll die Leute fit machen für die Bewährungsproben des Arbeitsmarktes. Die Leistungsgerechtigkeit führt zwar zu einer breiten gesellschaftlichen Diskussion darüber, ob Manager nicht auch mit einem Jahresverdienst von zwei statt vier Millionen Euro über die Runden kommen können. Aber was hat der Mini-Jobber eigentlich von dieser Diskussion? Genau dies: dass sein Ressentiment befriedigt wird (welches, pointiert gesagt, überhaupt erst durch den Gerechtigkeitsdiskurs entstehen konnte), dass er »alles an seinem Platz« weiß. Was das für ein Platz ist und ob die Unordnung, über die er sich aufregt, einfach nur die Kehrseite der ersehnten gerechten Ordnung ist – diese Fragen verhindert gerade der Ruf nach Gerechtigkeit.
Mehr noch, eben weil das Verlangen nach Gerechtigkeit den Ursachen eines Übels nicht auf den Grund geht (das wäre ein gradliniger, endlicher Prozess, der zu konkreten Resultaten führen würde), sondern sie die Verlaufsform der allgemeinen Moral ist, zersplittert sie sich in zahllose Elemente. Man sieht das daran, dass sich für gewöhnlich beide Konfliktparteien auf die Gerechtigkeit berufen können. Wer Mindestlöhne fordert, bekommt von der Gegenseite die, wenn man so will, Standortgerechtigkeit vorgehalten: Es ist ja auch nicht gerecht, wenn das Betätigungsfeld der deutschen Wirtschaft so beschnitten wird, dass sie nicht mehr in der globalen Konkurrenz bestehen kann. Und »beschneidet« nicht die Frauenquote, als ein Ausdruck von Geschlechtergerechtigkeit, tatsächlich qualifiziertere Männer?

Der Adressat der Gerechtigkeitsdebatten ist der Staat, der Inhaber des gesellschaftlichen Gewaltmonopols, das den Vollzug der jeweiligen Gerechtigkeit garantiert. So erweist sich der Staat als Perpetuum Mobile der Gerechtigkeit. Er greift ein, um sie durchzusetzen – und verkörpert so schon an sich die Gerechtigkeit. Es gibt aber immer wieder Momente, in denen der Staat als Gerechtigkeitsmaschine ins Stottern gerät und seinen ei­genen Ansprüchen der Überparteilichkeit nicht mehr gerecht werden kann. »No justice – no peace«, so lautete zu Beginn der englischen Riots ein geflügeltes Wort. Genau diese »Justice«, also »nur« die korrekte Untersuchung des tödlichen Polizeieinsatzes, wollte die Staatsmacht nicht mehr garantieren, um kein Entgegenkommen, also keine Schwäche, zu signalisieren. Das sind die seltenen historischen Augenblicke, in denen das Konstrukt der Gerechtigkeit an sich selbst scheitert.